Immer stärker wird Künstliche Intelligenz (KI) zum Motor des Fortschritts und daher auch zur wesentlichen Grundlage für unseren künftigen Wohlstand. KI-Technologien sind daher von großer Bedeutung für unsere Gesellschaft und für alle Bereiche unserer Wirtschaft.
Umso problematischer ist es, dass Europa zunehmend von KI-Technologien abhängig wird, die von einer kleinen Anzahl amerikanischer Großunternehmen entwickelt und kontrolliert werden. Dies wird besonders deutlich bei der jüngsten Welle des Fortschritts in der KI, im Bereich der großen generativen Modelle (wie etwa ChatGPT). Aus dieser technologischen Abhängigkeit erwächst schnell eine wirtschaftliche und geopolitische Abhängigkeit, welche die Wettbewerbsfähigkeit und Widerstandsfähigkeit der europäischen Industrie gefährdet.
Die zunehmende Abhängigkeit Europas von außereuropäischen KI-Technologien betrifft nicht nur alle Sparten unserer Wirtschaft, sondern auch öffentliche Bereiche, wie etwa unser Bildungs- und Gesundheitswesen. Es ist daher von entscheidender Bedeutung für Deutschland und Europa, Bürgerinnen und Bürger, Firmen und öffentliche Einrichtungen, europäischen Kapazitäten in der KI-Forschung und -Innovation so weit auszubauen, dass „KI made in Europe“ im globalen Wettbewerb bestehen kann. Der Einsatz von KI wird unsere Zukunft prägen – daher müssen wir KI-Technologien so gestalten, dass sie uns eine wünschenswerte Zukunft ermöglichen.
Europäische KI-Strategie ist teilweise gescheitert
Seit 2018 arbeitet die Europäische Kommission an einer KI-Strategie mit einem doppelten Fokus auf Regulierung und Investitionen. Während die Regulierung, vor allem in Form des KI-Gesetzes (AI Act), weltweit Aufmerksamkeit erregt hat und zumindest in gewissem Maße den Schutz von EU-Bürgern und -Organisationen vor problematischen und schädlichen Anwendungen von KI-Systemen gewährleistet, ist die Investitionsstrategie in das europäische KI-Ökosystem weitgehend gescheitert.
Fünf Jahre nach der Vorstellung der EU-KI-Strategie ist „AI made in Europe“ international weiter zurückgefallen. Dies liegt hauptsächlich daran, dass eine Vielzahl relativ bescheidener Investitionen getätigt wurde, basierend auf dem Irrglauben, dass durch die Koordination und Zusammenarbeit vieler unterdimensionierter und breit gestreuter Aktivitäten große wissenschaftliche und wirtschaftliche Erfolge im Bereich KI erzielt werden können.
Nachdem die rasanten Fortschritte bei der Sprachverarbeitung zu einer neuen Welle breit anwendbarer generativer KI-Technologien geführt haben, hat sich die Lage nun kritisch zugespitzt. Eine führende Rolle bei dieser Art von KI-Technologie erfordert KI-spezifische Großrechenanlagen in einem Umfang, der in Europa derzeit weder im öffentlichen noch im privaten Bereich vorhanden ist. Besonders besorgniserregend ist, dass derzeitige generative KI-Systeme die von der EU entwickelten Anforderungen an „vertrauenswürdige KI“ keinesfalls erfüllen, gleichzeitig jedoch der Einsatz in der Industrie und im öffentlichen Sektor rapide zunimmt.
„KI ist zu wichtig, um sie der Industrie allein zu überlassen“
In vielerlei Hinsicht erinnert die jetzige Situation an die vor circa 25 Jahren, als ein einziges Unternehmen, „Celera Genomics“, kurz davor stand, das menschliche Genom zu entschlüsseln. Damals wurde in weiser Voraussicht entschieden, dass das mit der menschlichen Genomsequenz verbundene Wissen und Anwendungspotenzial zu wichtig ist, um allein der Industrie überlassen zu bleiben. Daher wurde ein öffentliches Großprojekt ins Leben gerufen, um sicherzustellen, dass die Sequenzierung des menschliche Genoms gleichermaßen in gemeinnützigen, öffentlichen Forschungseinrichtungen erfolgen kann, und die damit verbundenen Ergebnisse und Methoden nachfolgend auch der Industrie auf breiter Basis zur Verfügung stehen.
In Bezug auf ihre gesellschaftliche und wirtschaftliche Bedeutung steht die derzeitige Entwicklung von KI-Technologie der Genomsequenzierung in keiner Weise nach. Auch wenn Unternehmen zweifellos eine wichtige Rolle spielen sollten, ist KI zu wichtig, um sie der Industrie allein zu überlassen. Wir brauchen daher dringend eine große und gut koordinierte öffentliche Initiative, um sicherzustellen, dass Schlüsseltechnologien im Bereich KI breit und öffentlich verfügbar sind.
Europa ist nach wie vor gut positioniert, um eine solche Initiative ins Leben zu rufen. In vielen europäischen Forschungszentren und Universitäten wird nicht nur herausragende KI-Forschung betrieben, sondern auch eine große Anzahl weltweit begehrter KI-Talente ausgebildet. Investitionen in Forschungsnetze und regionale Exzellenzzentren für KI haben eine solide Grundlage geschaffen für den Aufbau eines wirklich herausragenden KI-Ökosystems mit einem Fokus auf mensch-zentrierte KI – das heißt, KI-Systeme, welche die menschliche Intelligenz nicht ersetzen, sondern sinnvoll ergänzen.
Konkret besteht dringender Bedarf an umfangreichen und langfristigen Investitionen in die Netzwerke von KI-Exzellenzzentren, die seit 2018 entstanden sind. Weiterhin werden sofortige Investitionen in wichtige Bereiche der KI-Forschung benötigt, die von den derzeitigen Förderungsprogrammen unzureichend abgedeckt sind, insbesondere in der Sprachverarbeitung und generativen KI, sowie umfangreiche individuelle Förderprogramme für KI-Talente.
Insbesondere sollte aber ein öffentlich finanziertes, groß angelegtes internationales Forschungszentrum für KI in Europa etabliert werden, ein weithin sichtbares „CERN für KI“, wie es bereits 2018 von tausenden von KI-Experten im Rahmen der CLAIRE-VISION für europäische Exzellenz in der KI vorgeschlagen und kürzlich auch vom britischen Premierminister Rishi Sunak aufgegriffen wurde. Ein solches Zentrum, ausgestattet mit den für KI-Spitzenforschung benötigten Rechen-, Daten- und Personalressourcen, könnte innerhalb weniger Jahr zu einem globalen Attraktor für Talent, Aktivitäten und Projekte im Bereich KI werden und damit einen erheblichen Beitrag zum Erfolg von „AI made in Europe“ leisten.
Wir stehen an einem kritischen Wendepunkt: Es braucht eine deutliche Kursänderung, einen couragierten Kraftakt, um „AI made in Europe“ zum Erfolg zu führen – zu einem Erfolg, der unsere Wirtschaft, unsere Gesellschaft und unsere Zukunft maßgeblich beeinflussen wird.
Holger Hoos ist Alexander-von-Humboldt-Professor für Künstliche Intelligenz an der RWTH Aachen und Vorstandsvorsitzender der „Confederation of Laboratories for Artificial Intelligence Research in Europe“ (CLAIRE). Dieser Artikel basiert auf einer öffentlichen Erklärung von CLAIRE mit dem Titel „AI made in Europe – boost it or lose it“ (verfügbar online unter https://claire-ai.org/ai-made-in-europe-2023/).