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Standpunkte Auch in Sandkästen gelten Spielregeln

Demian Niemeyer
Demian Niemeyer
Lajla Fetic
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Frauke Goll
Frauke Goll
Demian Niemeyer, Lajla Fetic und Frauke Goll vom appliedAI Institute for Europe Foto: Cherie Birkner

KI-Reallabore sind nicht dafür gedacht, eine Vielzahl von Anwendungen pauschal durchzuschleusen. Das gezielte Lernen an wenigen, besonders innovativen KI-Anwendungen steht im Fokus – genau dort, wo rechtliche Unsicherheit besonders groß ist. Wo muss der Rechtsrahmen weiterentwickelt werden, um Innovation rechtssicher und verantwortungsvoll zu ermöglichen?

von Demian Niemeyer, Lajla Fetic & Frauke Goll

veröffentlicht am 03.07.2025

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Wer schon einmal Kindern beim Sandburg bauen zugesehen hat, versteht: Experimentierfreude und Regeln schließen sich nicht aus. Vielmehr sind sie die Voraussetzung für Erfolgserlebnisse, bei denen keiner verletzt wird. Die europäische KI-Verordnung eröffnet mit den Regulatory Sandboxes (zu Deutsch: KI-Reallabore) genau diese Art von kontrolliertem Freiraum: Unternehmen, Verwaltungen und Aufsicht sollen KI-Anwendungen unter realen Bedingungen erproben dürfen. Doch damit daraus kein Durcheinander wird, braucht es Spielregeln: Klare Zielstellungen, Zuständigkeiten, Anreize und Prinzipien, auf die sich alle verlassen können. Die deutsche Bundesregierung reagiert, benennt KI-Reallabore im Koalitionsvertrag als zentrales Instrument und bringt das Reallabor-Gesetz in die Verhandlungen. Das ist gut so, denn die Zeit drängt, bis spätestens August 2026 muss der nationale KI-Sandkasten stehen.

Vom vermeintlichen Compliance-Booster zu verantwortungsvoller Innovation

Es ist wohl das Schicksal der KI-Reallabore, missverstanden zu werden. Was bereits bei der holprigen deutschen Übersetzung beginnt, wird spätestens bei der Zielsetzung eine ernste Herausforderung. Mitunter werden sie als „Compliance Booster“ interpretiert – doch das greift zu kurz. Reallabore sind nicht dafür gedacht, eine Vielzahl von Anwendungen pauschal durchzuschleusen. Das gezielte Lernen an wenigen, besonders innovativen KI-Anwendungen steht im Fokus – genau dort, wo rechtliche Unsicherheit besonders groß ist, wo Best Practices fehlen und strenge Regulierung Innovation bislang ausbremst. Der regulatorische Mehrwert zeigt sich dort, wo technologische Dynamik auf rechtliche Grauzonen und gesellschaftliche Relevanz trifft und Innovationen unter realen Bedingungen gemeinsam mit Behörden im Dialog erprobt und weiterentwickelt werden können.

Reallabore sind kein rechtsfreier Raum

In unserer Wissensökonomie ist das Lernen, das Auseinandersetzen mit dem bisher Unbekannten, die Grundlage für Fortschritt. Innovation setzt voraus, dass Neues ausprobiert, bewertet und angepasst werden kann. Doch genau das ist in hochregulierten Bereichen wie Medizin, Finanzwesen oder kritischer Infrastruktur – aus guten Gründen – stark eingeschränkt. Für Innovatoren werden in hochdynamischen Technologiefeldern wie der KI restriktive Genehmigungsverfahren oder veraltete, unklare Regelwerke schnell zu zentralen Hürden für Entwicklung, Erprobung und Markteintritt neuartiger Anwendungen. Genau hier setzen KI-Reallabore an: Sie ermöglichen es, innovative Anwendungen für einen befristeten Zeitraum und unter behördlicher Begleitung unter möglichst realen Bedingungen zu erproben – idealerweise unter Rückgriff auf sogenannte Experimentierklauseln, die gezielten Ausnahmen von fachrechtlichen Vorgaben und Verboten erlauben. So entstehen strategische Experimentierräume: Durch kontrollierten Trial-and-Error und den direkten Dialog zwischen Innovatoren, Regulatoren und Aufsicht entsteht belastbares Wissen. Was funktioniert? Wo bestehen Risiken? Und wo muss der Rechtsrahmen weiterentwickelt werden, um Innovation rechtssicher und verantwortungsvoll zu ermöglichen?

Aus dem Ausland lernen: Bedingungen für wirksame KI-Reallabore

Damit KI-Reallabore Wirkung entfalten, müssen die Voraussetzungen stimmen. Ein Blick in die internationale Praxis und Forschung ergibt einige Stellschrauben: Erstens: Die beteiligten Behörden brauchen eine klare funktionale Trennung zwischen Marktaufsicht und Innovationsbegleitung. Letztere muss dialogorientiert und experimentell arbeiten können – ohne durch das Vorsorgeprinzip klassischer Marktaufsicht schon frühzeitig ausgebremst zu werden. Zweitens: Das Testen unter realen Bedingungen muss im Mittelpunkt stehen und auch rechtlich möglich sein. Dafür sollten sektorale Fachgesetze gezielt um Experimentierklauseln erweitert werden. Drittens: KI-Reallabore sollten im Betrieb stärker sektorbezogen organisiert werden. Eine thematische Bündelung – etwa entlang sensibler Anwendungsfelder wie Emotionserkennung, öffentliche Verwaltung oder autonomes Fahren – erleichtert die Ressourcenplanung, stärkt Peer-Learning und macht regulatorische Erkenntnisse besser vergleichbar. Das zeigt auch das britische Modell des AI Airlock mit seinem Fokus auf den Gesundheitsbereich.

Was in Reallaboren gelernt wird, gehört allen.

Der strategische Mehrwert von KI-Reallaboren für den Standort Deutschland liegt darin, dass ihre Erkenntnisse dem gesamten KI-Ökosystem zugutekommen. Frei nach dem Leitmotiv der dänischen Reallabore: Help many by helping one. Hier setzt die KI-Verordnung zu unambitionierten Vorgaben. Die öffentliche Bereitstellung der Erkenntnisse ist nach Artikel 57 Absatz 8 ist lediglich als optional vorgesehen und an die ausdrückliche Zustimmung von Behörde und teilnehmendem Unternehmen koppelt. Dabei sprechen gewichtige Argumente für eine verpflichtende Veröffentlichung: Der Einsatz öffentlicher Mittel, das Gebot der Transparenz über durchgeführte Tests und das Wettbewerbsrecht, da durch staatliche Förderung einzelner Unternehmen unterstützt werden. Das muss beim künftigen Reallabor-Gesetz und dem nationalen Durchführungsgesetz der KI-Verordnung dringend nachjustiert werden.

Die politische Gestaltung muss jetzt beginnen.

Wer einen Sandkasten aufstellt, muss nicht nur den Rahmen bauen, sondern auch dafür sorgen, dass darin sinnvoll gespielt wird. KI-Reallabore werden durch die konzeptionellen Weichenstellungen echte Steuerungsinstrumente für ein souveränes KI-Ökosystem. Sie ermöglichen regulatorisches Lernen und schaffen dadurch Vertrauen in neuartige KI-Anwendungen und eine adaptive Regulierung. Doch dafür braucht es jetzt politische Gestaltung: Die KI-Verordnung muss umgesetzt und das Reallabor-Gesetz verabschiedet werden. Dafür bedarf es weiterer sektoraler Experimentierklauseln. Frühestens nach der Sommerpause ist damit zu rechnen, umso wichtiger ist es, das Spielfeld jetzt klug vorzubereiten.

Demian Niemeyer ist Volljurist und AI Regulatory Expert am appliedAI Institute for Europe. Er berät zu regulatorischen Herausforderungen an der Schnittstelle von KI, Innovation und Recht. Sein Schwerpunkt liegt auf der Frage, wie rechtliche Grauzonen durch dialogorientierte Regulierung verantwortungsvoll gestaltet werden können.

Lajla Fetic ist Head of AI Public Interest & Policy am appliedAI Institute for Europe. Sie berät Politik, Verwaltung und zivilgesellschaftliche Organisation zur gemeinwohlorientierten Regulierung und zum Einsatz Künstlicher Intelligenz. Sie war u.a. als Sachverständige zur europäischen KI-Verordnung und in der Normungsroadmap KI der deutschen Bundesregierung tätig.

Frauke Goll ist Geschäftsführerin des appliedAI Institute for Europe. Sie setzt sich für eine verantwortungsvolle Entwicklung und Anwendung Künstlicher Intelligenz in Europa ein – mit Fokus auf vertrauenswürdige KI, praxisnahe Weiterbildung und die Förderung von Startups und Talenten.

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