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Standpunkte Cybernation – bitte was?

Michael Littger, vormaliger Geschäftsführer von DsiN – Deutschland sicher im Netz e.V.
Michael Littger, vormaliger Geschäftsführer von DsiN – Deutschland sicher im Netz e.V. Foto: HPI/Nicole Krüger

Zum laufenden Digitalgipfel in Frankfurt diskutieren Wirtschaft, Wissenschaft und Verwaltung über Grund und Grenze einer „Cybernation“ – und welche Zukunft uns als Cyberbürger erwartet. Grund genug für Ex-DsiN-Chef Michael Littger, im Standpunkt einen Blick auf ihre Entstehung zu werfen.

von Michael Littger

veröffentlicht am 22.10.2024

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Im alten Europa war die Proklamation neuer Staaten meist noch Aristokraten, Revolutionären oder eben demokratischen Volksvertretern überlassen. Heute reicht dafür das aufgeweckte Kommunikationsteam einer Bundesoberbehörde, um das Staatswesen der Diktion einer nicht näher definierten Cyberkraft zu unterwerfen. Und während Martin Luther für seine revolutionären Anwandlungen noch die Zeit für 95 Thesen fand, darf sich die Cybernation vorerst mit sechs Zielen und einer tautologisch anmutenden Vision begnügen („Wir bauen gemeinsam die Cybernation“). So weit, so gut – und so richtig. Denn um es mit Yuval Noah Harari zu sagen: Menschen brauchen Geschichten, um sich zu versammeln und Gemeinsames zu erreichen.

Es lohnt sich also ein Blick auf die kurze Geschichte der Cybernation, um als mündiger Cyberbürger daran mitzubauen – oder eben auszuwandern für die Gründung einer eigenen Nation. Das Gründungsfanal ist dann auch schnell erzählt: Im Schulterschluss mit dem Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnologie, kurz BSI, treten wir Cyberbürger gegen alles Bedrohliche im Cyberraum an. Und um vor die Welle zu kommen, handelt die Cybernation pragmatisch, fördert das Bewusstsein für Cybersicherheit, entwickelt Lösungen mit Technologieexzellenz und schafft ein Ökosystem aus dem Dreieck Wirtschaft, Wissenschaft und Politik. Hoffnungsvolle Ansätze, die einen Unterschied machen können, wenn ihre Adressaten mitziehen – aber gelingt damit auch die gemeinsame „Cybernation“?

Die Cybernation braucht einen transformatorischen Imperativ

Zweifel sind angebracht – nicht allein dann, wenn die Verengung auf Cybersicherheit für die Strahlkraft einer Cybernation als zu kurzgegriffen erscheint. Denn durch das völlige Ausblenden von Mensch und Gesellschaft in den erklärten Zielen der Cybernation wird ihre Ankerrolle für Cybersicherheit sowie allen souveränen Handelns im digitalen Alltag amtlich vernachlässigt. Damit droht die „Cybernation“ sich in eine Reihe solcher Begriffe von Künstlicher Intelligenz, Big Data, Smart X bis Virtual Reality aus dem Silicon Valley einzuordnen, deren Konzeptionen für den Menschen keine Rolle vorsehen, obwohl sie fundamentale Auswirkungen auf Leben, Arbeit, Gesundheit und Sicherheit haben. Die Folgen solcher Kontrollverluste können weitreichend sein – und sich unter anderem durch irrationalen Protest an den Wahlurnen äußern.

Um dieser Entwicklung entgegenzuwirken, könnte sich ein Blick auf bewährte Anforderungen lohnen, die beim Aufbau gesellschaftsrelevanter Großprojekte – und eben auch einer robusten Cybernation helfen, die sich diesen Namen verdienen möchte. Dabei geht es weder um eine Neuauflage lustiger Erklärvideos oder Bierdeckel, um Cyberbürger:innen das Internet zu erklären. Notwendig sind aufrichtige Überlegungen, wie der Mensch seine Rolle als Ankerpunkt des gesellschaftlichen Diskurses über weitreichende Entscheidungen, die sein Leben betreffen, zurückgewinnt. Dieser Anspruch sollte nach Möglichkeit jeder Initiative zu Grunde liegen, die weitreichende Auswirkungen auf gesellschaftliche Lebensumstände zum Ziel hat (transformatorischer Imperativ).

Die gute Nachricht: Die Einbindung des „Faktor Mensch“ in die Konstruktion einer Cybernation erfordert keine Neuerfindung des Rades. Genügen könnte die Besinnung auf hergebrachten Grundlagen der Verständlichkeit und Partizipation, die auf Identifikation und Eigeninitiative ausgerichtet sind. Ihre Nutzung lässt sich anhand von drei Beispielen beleuchten, die sich in besonderer Weise durch Defizite und fehlende Anwender- und Bürgereinbindung auszeichnen – mit direktem Bezug zur Konnotation der Cybernation im Sinne ihrer Erfinder.

  • Cybernation und Compliance: Für die knapp dreieinhalb Millionen Unternehmen in Deutschland prasselt derzeit eine Vielzahl an digitalen und sicherheitsrelevanten Gesetzesinitiativen ein, deren Gesamtheit für viele kaum mehr beherrschbar erscheint (Verständlichkeit) und deren Umsetzung von Teilen als unverhältnismäßig empfunden wird (Partizipation) mit dem Ergebnis neuer Vermeidungsstrategie statt Identifikation (Eigeninitiative). Der enorme Gesetzeszuwachs droht sich von den Vorstellungen seiner Adressaten zu entkoppeln mit der Folge gefühlter Kontrollverluste (Compliance-Krise).
  • Cybernation und Start-ups: Neugründungen dienen als Gradmesser der Innovationskraft einzelner Branchen, gerade auch der Cybersicherheit – ohne Verständnis bei vielen Gründer: innen, warum sie nach erfolgreicher Gründung nicht schnellstmöglich wieder verkaufen sollten (Verständlichkeit). Demgegenüber haben Anreize für nachhaltige Firmenentwicklungen das Nachsehen (Partizipation), mit der Folge, dass standortbezogenes Unternehmertum verloren geht (Identifikation). Die politische Vorstellung nachhaltiger Gründungen nach dem Vorbild von SAP droht sich von der Realität zu entkoppeln (Unternehmer-Krise).
  • Cybernation und Künstliche Intelligenz: Fluch und Segen der KI samt Sicherheitsrisiken sind für die meisten ein Buch mit sieben Siegeln, ihre Auswirkungen auch für Expert: innen noch ungeklärt (Verständlichkeit). Unbeschadet werfen begeisterte Unternehmen schon heute futuristische Lebenskonzepte an die Wand („Copilot, Ihr täglicher KI-Begleiter“), die öffentlich unwidersprochen zum Rückzug verleiten (Partizipation). Anstelle freudiger Identifikation überwiegen gefühlte Fremdbestimmung und Entkopplung vom vertrauten Alltag (Eigeninitiative). Gerade jetzt würde die Rückkehr des Menschen als Ankerpunkt des gesellschaftlichen Diskurses Not tun, welche die Cybernation (sich) leisten sollte.

Unabhängig davon, welche Themenwelten die Cybernation sich im Laufe ihres weiteren (virtuellen) Daseins erschließen wird – eines erscheint gewiss: der Mensch als zentraler Bezugs- und Ankerpunkt gehört in die Mitte des Diskurses. Im menschenzentrierten Denken liegt die zentrale Strahlkraft inmitten einer technologisierten Begriffswelt. Oder um im Bild zu bleiben: Eine Cybernation, die sich zur Rolle ihre Cyberbürgerinnen und -bürger bekennt, vermeidet ihre Auswanderungen in alternative Welten. Den ersten Versuch einer solchen Annäherungen können wir heute auf dem Digitalgipfel beobachten, der am 2. Gipfeltag zur Session über „Cyberbürgerinnen und Cyberbürger für eine souveräne Cybernation“ einlädt.

Michael Littger hat im Sommer 2024 die Geschäftsführung von DsiN – Deutschland sicher im Netz e.V. übergeben, in dessen Zeit innovative Mitmach- und Beteiligungsformate wie FitNIS2, Digitalführerschein, Dat-O-Mat und das Sicherheitsbarometer auf den Weg gebracht wurden. Aus dem Sabbatical heraus berät Littger Gründer:innen von digitalen Geschäftsmodellen.

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