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Digitalisierung & KI

Standpunkte Das Blaue vom Himmel? Welches Potenzial Blue Sky wirklich hat

Felix Sieker und Charlotte Freihse, Bertelsmann-Stiftung
Felix Sieker und Charlotte Freihse, Bertelsmann-Stiftung

Viele Nutzer:innen suchen nach einer Alternative zu Elon Musks Plattform X und setzen dabei auf das soziale Netzwerk Blue Sky. Wie bei Mastodon sind die Hoffnungen groß – zu Recht? Felix Sieker und Charlotte Freihse von der Bertelsmann-Stiftung analysieren im Standpunkt das Potenzial von Blue Sky.

von Felix Sieker und Charlotte Freihse

veröffentlicht am 31.10.2023

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Beim Öffnen der App Blue Sky springen sofort die Ähnlichkeiten der Benutzeroberfläche mit X ins Auge. Das ist kein Zufall. Der Gründer und ehemalige CEO von X/Twitter, Jack Dorsey, unterstützte bereits 2019 mit 13 Millionen Dollar eine Initiative zur Entwicklung eines offenen, dezentralen Standards für soziale Medien. Auf diesem sogenannten AT Protocol basiert Blue Sky. Dorsey sitzt zwar im Aufsichtsrat von Blue Sky, hat jedoch keinen operativen Einfluss und besitzt auch keine Anteile am Unternehmen. Tatsächlich arbeitet er derzeit an einem Konkurrenzprotokoll namens Nostr Protocol.

Ein limitierender Faktor für das Wachstum von Blue Sky ist die Tatsache, dass es sich derzeit um ein einladungsbasiertes Netzwerk handelt. Zugang zur Plattform gibt es nur mit Einladungscodes, die nach einer bestimmten Zeit auf Blue Sky verteilt werden. Wann die Plattform für alle geöffnet wird, ist noch unklar. Obwohl Blue Sky der Benutzeroberfläche von X ähnelt, fehlen noch einige Funktionen, die X ausgezeichnet haben: Noch können keine privaten Nachrichten per Chat-Funktion (Direct Messages) verschickt werden; das Posten von Videos und GIFs funktioniert ebenfalls noch nicht. Es gibt noch keine Hashtag-Funktion, und die Verifizierung von Accounts gestaltet sich kompliziert. All das scheint dem Hype jedoch keinen Abbruch zu tun.

Das Netzwerk, welches seit seinem Launch im Februar dieses Jahres vor allem von Menschen in den USA und Brasilien genutzt wurde, zieht nun seit etwa vier Wochen zunehmend auch Journalist:innen, Politiker:innen und Institutionen aus Deutschland an. Während die X-Community in Deutschland, die stark von Medien, Politik und Wissenschaft geprägt ist, nur sehr marginal auf Mastodon zu finden ist, scheint sie auf Blue Sky schneller und vor allem vollständiger zu wachsen. Die Hoffnung ist groß, endlich eine nutzer:innenfreundlichere Alternative als Mastodon zu X gefunden zu haben. Kann Blue Sky dem gerecht werden?

Mehr Macht für Nutzer:innen, weniger Macht für Milliardäre

Der erste Aspekt, der dafür spricht, ist das bereits erwähnte AT Protocol. Während die großen Social-Media-Plattformen auf geschlossenen Systemen basieren, die keinen Austausch mit sozialen Netzwerken außerhalb des eigenen Dienstekonglomerats zulassen, liegt Blue Sky ein offenes Kommunikationsprotokoll zugrunde, wie es bei der E-Mail-Kommunikation Standard ist. Hier ist es ohne weiteres möglich, als Nutzer:in eines Dienstes wie Yahoo E-Mails an einen anderen Dienst wie Gmail zu senden beziehungsweise von dort zu empfangen.

Diesem Prinzip folgend, besteht die Vision darin, dass es am Ende verschiedene Social-Media-Anwendungen wie Blue Sky geben wird, die dasselbe Protokoll nutzen und miteinander kommunizieren können. Der Vorteil dabei ist offensichtlich: Selbst wenn das Unternehmen Blue Sky zum Beispiel von einem Milliardär mit fragwürdigen Motiven übernommen wird, wären die Nutzer:innen nicht machtlos. Sie könnten die Plattform verlassen und von einer anderen Anwendung, die auch auf dem AT-Protocol aufgesetzt ist, weiterhin mit Accounts bei Blue Sky kommunizieren und interagieren.

Im Rahmen der anbietergebundenen Infrastruktur sozialer Medien ist das nicht gegeben. Tatsächlich haben sich in den zurückliegenden Jahren vermehrt Plattformen durchgesetzt und die Idee von offenen Protokollen verdrängt. Die einzige Wahlfreiheit, die den Nutzer:innen auf zentral geführten, geschlossenen Plattformen wie X, Instagram oder Tiktok bleibt, besteht darin, die Gegebenheiten und Änderungen der Plattform zu akzeptieren oder diese eben zu verlassen

Bei bisherigen Empfehlungsalgorithmen dominiert der Profit

Der zweite Grund, warum Blue Sky das Potenzial zur echten X-Alternative hat, betrifft die Möglichkeiten für Nutzer:innen, über die technische Gestaltung ihrer Feeds zu entscheiden. Damit sie selbst auswählen können, welche Algorithmen ihre Feeds wie filtern sollen. Auf dominierenden Plattformen wie X, Instagram und Tiktok bestimmen die Empfehlungsalgorithmen der Plattformen, was Nutzer:innen angezeigt wird. Das Ziel besteht dabei immer darin, die Interaktion mit der Plattform zu maximieren. Nicht die Qualität der Inhalte steht im Vordergrund, sondern dass sie möglichst oft geklickt, geliked, geteilt und kommentiert werden. Denn das steigert die Verweildauer auf der Plattform und somit die Werbeeinnahmen. Diese algorithmische Sortierung gilt als einer der Hauptgründe für die negativen Auswirkungen sozialer Medien, denn sie gibt reißerischen und polarisierenden Inhalten mehr Aufmerksamkeit.

Einen anderen Weg geht das dezentrale Netzwerk Mastodon mit einem chronologisch sortierten Feed: Beim Öffnen der App erscheint der zuletzt abgesetzte Post an oberster Stelle – und eben nicht derjenige mit den meisten Interaktionen. Das geht auf X übrigens auch, allerdings erst durch manuelles Aktivieren der entsprechenden Einstellung, was erfahrungsgemäß nur die wenigsten tun. Doch der chronologische Feed birgt auch Herausforderungen: Einen Überblick über Trends und Debatten – so dysfunktional sie auf X mittlerweile auch sein mögen – müssen sich Nutzer:innen auf Mastodon mühsam selbst zusammensuchen. Eine breitere gesellschaftliche Bühne, die auf X nach wie vor zu finden ist, bildet das Netzwerk aktuell jedenfalls noch nicht ab.

Ein Marktplatz der Empfehlungsalgorithmen

Blue Sky möchte jetzt einen Weg zwischen Empfehlungsalgorithmen und chronologischer Sortierung gehen. Die Vision ist ein Marktplatz, auf dem verschiedene Algorithmen angeboten werden. Im Zentrum stehen die Nutzer:innen selbst, die sich aussuchen können, wie die technische Architektur ihres Feeds gestaltet ist. Blue Sky ermöglicht bereits die Auswahl verschiedener Feeds, die beispielsweise bestimmte Interessen oder politische Themen abdecken. Ebenso gibt es die Möglichkeit, eigene Feeds zu entwickeln. Besonders großes Potenzial zur Verbesserung des digitalen Diskurses hätte ein Nutzerfeed, der nicht nur auf die Maximierung von Interaktionen abzielt, sondern auch die Wahrscheinlichkeit berücksichtigt, dass unterschiedliche Gruppen denselben Argumenten und Positionen zustimmen – sogenannte Bridging-Algorithmen.

Dadurch würden nicht mehr nur reißerische Inhalte bevorzugt, sondern auch solche, die eine ausgleichende Wirkung haben und konstruktive Debatten fördern. Blue Sky könnte die erste Plattform werden, die den Einsatz von Bridging-Algorithmen durch eine breitere Öffentlichkeit ermöglicht. Dies könnte einen echten Beitrag zur Verbesserung digitaler Diskurse leisten.

Mit der Nutzer:innenzahl wachsen die Herausforderungen

Blue Sky ist derzeit mit etwas mehr als einer Million Nutzerinnen und Nutzern noch recht klein. Die Diskurse sind gesund, aber noch weit entfernt davon, die Breite der Gesellschaft abzubilden. Das dürfte sich ändern, je mehr Nutzer:innen dazu stoßen. Dann wird allerdings die Auswahl verschiedener Feeds allein nicht mehr reichen, um eine positive Debattenkultur aufrechtzuerhalten. Die Moderation von Inhalten wird mit wachsender Nutzer:innenzahl komplexer und herausfordernder werden.

Essenziell für den Erfolg von Blue Sky ist es, ob weitere Anwendungen entstehen, die das AT-Protokoll nutzen. Denn die größten Vorteile der Plattform gegenüber X entfalten sich nur dann, wenn ein lebendiges Ökosystem aus unterschiedlichen dezentralen, offenen Social-Media-Diensten entsteht. Der Weg dahin ist lang, doch ein erster entscheidender Schritt getan. Daher besteht die berechtigte Hoffnung, dass der Start von Blue Sky nicht das Blaue vom Himmel verspricht, sondern echtes Potenzial für eine bessere Social-Media-Kultur bereithält.

Charlotte Freihse ist Projektmanagerin im Projekt „Upgrade Democracy“ der Bertelsmann-Stiftung. Dort beschäftigt sie sich in erster Linie mit Platform Governance und Desinformation.

Felix Sieker arbeitet als Projektmanager für das Projekt „Reframe Tech“ im Programm „Digitalisierung und Gemeinwohl“ bei der Bertelsmann-Stiftung. Sein Fokus liegt dabei auf der Frage, wie das Potenzial von algorithmischen Entscheidungssystemen für das Gemeinwohl stärker sichtbar gemacht werden können.

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