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Standpunkte Das Medienfreiheitsgesetz muss die Lücken des DSA schließen

Renate Dörr vom Europabüro des ZDF
Renate Dörr vom Europabüro des ZDF Foto: Claire Wies

Medien sind nicht mit anderen Produkten und Dienstleistungen vergleichbar. Darum brauchen die Löschregeln des Digital Services Act mit Blick auf Medieninhalte dringend Nachbesserung, die der Artikel 17 des EU-Medienfreiheitsgesetzes liefern kann, schreibt Renate Dörr vom ZDF.

von Renate Dörr

veröffentlicht am 07.09.2023

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Der ZDF-Frontal Account wurde von X (früher Twitter) blockiert. Die Nachrichten des belgischen Rundfunks (RTBF) über einen Polizeieinsatz wurden von Facebook gelöscht. Die Jugendshow ‚Think Tank’ von Swedish Radio (SR) war über Instagram nicht mehr zugänglich. Eine lange Liste derartiger Beispiele wird durch das bekannteste Foto aus dem Vietnamkrieg angeführt: 2016 löschte Facebook das Foto eines Mädchens, das vor Napalmbomben flüchtet, von der Seite der norwegischen Zeitung Aftenposten. Begründung: Verstoß gegen das Nacktbildverbot von Facebook.

Die Mehrheit der europäischen (und nicht nur der jungen) Bürger konsumiert Nachrichten nicht mehr direkt auf den Nachrichtenseiten der Medien. Die Mehrzahl geht heute auf und über soziale Medien oder Plattformen. Diese spielen für die Information und Kommunikation eine zentrale Rolle. Das ist keine neue Erkenntnis.

Der DSA ermöglicht das Löschen legaler Medieninhalte

Einerseits sind die Plattformen und sozialen Medien für die Vermittlung von Nachrichten und Informationen also unabkömmlich, andererseits sperren, löschen und blockieren diese zunehmend – das zeigen die oben genannten Beispiele – legale Inhalte von Medienanbietern, die durch nationales und europäisches Medienrecht bereits reguliert (Jugendschutz, Respekt der Menschenwürde, Werberegelungen et cetera) und unter der Aufsicht unabhängiger Regulierungsbehörden oder effektiver Selbstregulierungsorgane sind. In der analogen Welt ist dies vergleichbar mit einem Zeitungsverkäufer, der ihm missfallende Artikel aus den Zeitungen ausschneidet.

Das europäische Gesetz über digitale Dienste (Digital Services Act, DSA) erlaubt mit Blick auf die Berufsfreiheit der Plattformen ein derartiges Agieren. Plattformen und soziale Medien dürfen legale Inhalte löschen, wenn diese Inhalte gegen deren Geschäftsbedingungen verstoßen (also beispielsweise gegen die strengeren amerikanischen Vorstellungen in Bezug auf die Darstellung nackter Haut). Das Gesetz schreibt vor, dass Plattformen erst nach der Löschung die Medienanbieter – bezogen auf die oben genannten Beispiele also ZDF, RTBF oder SR – informieren und ihre Entscheidung begründen müssen. Die Medienanbieter können zwar gegen diese Entscheidung vorgehen. Außer im Fall einer gerichtlichen Überprüfung entscheiden letztendlich aber trotzdem die Plattformen, ob und wann sie die Inhalte wieder online zugänglich machen.

Der DSA ist kein Mediengesetz. Der DSA ist vielmehr ein Gesetz, das den Umgang der Plattformen mit allen Produkten und Dienstleistungen in gleicher Weise reguliert. Medien sind aber nicht mit anderen Produkten und Dienstleistungen vergleichbar. Diese allgemeinen Regeln werden der besonderen gesellschaftlichen Bedeutung der Medien nicht gerecht. In diesem Fall gilt also der Grundsatz „one size does not fit all“.

Die Rolle der Plattformen muss berücksichtigt werden

Die Europäische Kommission hat dies erkannt und im Entwurf des Europäischen Medienfreiheitsgesetzes (EMFA) eine weitergehende Regelung – den Artikel 17 EMFA – vorgeschlagen. Der EMFA, speziell Artikel 17, soll den DSA an dieser Stelle ergänzen und komplettieren. Denn die Frage des Umgangs der Plattformen mit legalen Medieninhalten ist nicht das Problem von einigen Beispiele (sogenannte „false positives“). Es geht vielmehr grundsätzlich darum, wie Europa mit der meinungsbildenden Macht der Plattformen, der sozialen Medien und der Suchmaschinen umgeht. Anfang dieser Woche veröffentlichte ein Suchmaschinenexperte im ‚Tagesspiegel‘ einen Artikel, in dem er vor ‚blindem Vertrauen‘ in Suchmaschinen warnt. Diese bestimmten, was Nutzer von den Inhalten des Webs zu sehen bekämen und was nicht.

Der umstrittene Artikel 17 des EMFA, der die Rolle der Plattformen bei der Vermittlung von legalen Medieninhalten regelt, muss im Kontext des gesamten Gesetzesvorschlags gesehen werden. Der EMFA hat mehrere Ziele: Das vornehmliche Ziel ist die Sicherung eines nationalen Rechtsrahmens, der ökonomische und politische Einflussnahmen auf Medien verhindert. Journalisten und Redakteure müssen unabhängig und frei arbeiten können.

Ein weiteres Ziel adressiert die Rechte von ‚Empfängern von Mediendiensten‘, also von Zuschauern. Diese müssen Zugang zu einer „Vielzahl von Nachrichten und Inhalten zur aktuellen Information (haben), die unter Achtung der redaktionellen Freiheit der Mediendiensteanbieter erstellt werden (siehe Artikel 3 des EMFA-Entwurfes).

Wenn der EMFA also einerseits die Unabhängigkeit journalistischer Arbeit und das Recht des Zugangs von Zuschauern zu diesen Inhalten garantiert, dann muss andererseits – angesichts der oben skizzierten Relevanz der Plattformen bei der Vermittlung von Informationen – auch deren Rolle einbezogen werden.

Qualitätsjournalismus ist das beste Mittel gegen Desinformation

Folgerichtig schlägt Artikel 17 ein Verfahren vor, das Plattformen einhalten müssen, wenn sie legale Medieninhalten löschen oder blockieren wollen. Der Kulturausschuss des Europäischen Parlaments hat den Kommissionsvorschlag geändert und an einigen Stellen klarer gefasst. Dieser Vorschlag steht heute zur Abstimmung im Europäischen Parlament (EP).

Am Beispiel der Sperrung des Frontal Accounts sieht der EP-Vorschlag folgendes Verfahren vor: X (früher Twitter) müsste vor der Sperrung des Frontal Account das ZDF kontaktieren, die Sperrung ankündigen und begründen, gegen welche Regeln die Inhalte nach Meinung von X verstoßen. Das ZDF hätte 24 Stunden Zeit, darauf zu reagieren. Wenn die Erwiderung des ZDF für X nicht ausreichen sollte, müsste der Vorgang der zuständigen Regulierungsbehörde zur Entscheidung vorgelegt werden. Dies ermöglicht die Klärung von konkreten Sachverhalten. Darüber hinaus sieht der Vorschlag vor, dass ZDF und X in einen grundsätzlicheren Dialog eintreten können, in dem einvernehmliche Lösungen anzustreben sind.

Das ist im Kern das Verfahren, das heute im EP-Kulturausschuss zur Diskussion steht. Dagegen wird argumentiert, dass damit eine Überregulierung der Plattformen erfolge und allen Medien eine pauschale Ausnahme garantiert werde, die es den Plattformen unmöglich mache, gegen Falschinformationen vorzugehen. Diese Einschätzung ist, betrachtet man das konkrete Verfahren, ausgesprochen übertrieben und politisch zugespitzt.

Die Verbreitung von Qualitätsjournalismus ist gerade ein entscheidender Teil der Lösung zur Bekämpfung von Falschinformationen. Die Verfügbarkeit und einfache Auffindbarkeit derartiger Inhalte sollten von den Plattformen viel mehr gefördert und unterstützt werden, statt sie zu beschränken.

Bisher galt in Europa das Prinzip, dass derjenige, der die Medien- und Meinungsfreiheit einschränkt, diese Einschränkung rechtfertigen muss. Wenn europäische Medienanbieter gegenüber meist nicht-europäischen Plattformen begründen müssen, warum ihre legalen Inhalte nicht blockiert werden sollten, ist dies die Umkehr dieses Prinzips. Daher ist Artikel 17 ein erster Schritt zur Auflösung dieses Widerspruchs. Das hohe Gut der Meinungsfreiheit muss uns diese Debatte wert sein.

Renate Dörr ist im ZDF Justitiariat und Brüsseler Europabüro für europarechtliche Fragen des Senders zuständig. Vor ihrer Tätigkeit im ZDF war sie bei Bundes- und Landesministerien und als Nationale Expertin in der Europäischen Kommission beschäftigt.

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