Wenn in ein paar Monaten der Wahlkampf für den nächsten Bundestag losgeht, werden Parteien und Kandidierende wieder Wahlplakate aufhängen und Werbespots im Fernsehen schalten. Zu jeder Kampagne gehören mittlerweile auch Werbeanzeigen in sozialen Medien, auf Videoplattformen, Suchmaschinenergebnisseiten und anderen digitalen Plattformen. Für Plakate und TV-Spots gibt es klare Regeln. Dafür, wer online wo und für wie viel Geld werben darf, fehlen sie allerdings.
Das ist ein Problem, denn durch undurchsichtige Onlinekampagnen können finanzstarke Werbetreibende andere Positionen verdrängen und somit den politischen Diskurs verzerren. Ein Abwinken, dass hier eben der Markt am Werk sei, mag bei Produktwerbung passen, ist aber bei bezahlten politischen Botschaften auf großen Plattformen unangebracht. Bei politischer Werbung geht es darum, Ideen und Vorschläge zu präsentieren, die unter Umständen Einfluss auf die gesamte Bevölkerung haben, und nicht darum, Kekse und Shampoo zu verkaufen.
Politische Werbung im Netz wird immer entscheidender
Werbung in sozialen Netzwerken hat sich bewährt, weil sie es recht einfach ermöglicht, viele Wählerinnen und Wähler zu erreichen – auch in Deutschland. Schätzungen gehen davon aus, dass die großen deutschen Parteien 2019 gut drei Millionen Euro für Facebook-Werbeanzeigen ausgaben, die knapp 240 Millionen Mal gesehen wurden. Zwar ist Deutschland damit noch weit von den Ausmaßen entfernt, die politische Onlinewerbung in den USA angenommen hat. Dort gaben Donald Trump und Joe Biden zusammen ungefähr diesen Betrag in US-Dollar aus – in der ersten Juliwoche. Doch auch in Deutschland gewinnt Onlinewerbung an Bedeutung. Wie die „Werbearchive“ großer Plattformen als öffentliche Datenbanken zu politischer Werbung zeigen, können deutsche Parteien für ein paar Hundert Euro mehrere Zehntausende oder sogar Millionen Menschen erreichen.
Neben diesen Vorteilen einer schnellen und großen Reichweite entstehen aber auch Gefahren: Finanzstarke Werbetreibende können fast unbegrenzt bezahlte politische Botschaften streuen, was offline nicht möglich ist, und es ist nur schwerlich nachzuvollziehen, wer auf welche Weise Onlinewerbung schaltet. Die Gefahr von „Zone Flooding“ bedeutet, dass Werbetreibende die Nutzerfeeds in sozialen Medien mit ihren Botschaften „überfluten“ können. Ursprünglich stammt der Begriff vom ehemaligen Trump-Berater Steve Bannon, der gesagt haben soll, er wolle die Medien „mit Scheiße überfluten“. So wird es immer schwieriger, überhaupt herauszufinden, was wahr und falsch ist. Werbetreibende mit dicker Tasche müssen sich dabei nicht allein auf unbezahlte Inhalte ihrer Unterstützerinnen und Unterstützer verlassen. Sie können sich auch über massenweise Werbeanzeigen die Aufmerksamkeit der Wahlberechtigten erkaufen.
Werbung ohne Grenzen
Die Möglichkeit des Zone Flooding steht derzeit auch in Deutschland Kandidierenden, Parteien und anderen politischen Organisationen zur Verfügung: Begrenzungen für bezahlte politische Kommunikation in den sozialen Netzwerken gibt es nicht, ganz im Gegensatz zu Radio und Fernsehen. Wie solches Zone Flooding die politische Agenda verzerren kann, hat sich bereits in Großbritannien und den USA gezeigt. Im Vereinigten Königreich entstanden in den Monaten vor der Wahl Ende 2019 Organisationen, die abertausende Anzeigen in sozialen Netzwerken schalteten und kurz danach wieder verschwanden, wie die Recherche einer britischen NGO zeigt.
In den USA dominierte der Außenseiterkandidat Michael Bloomberg wochenlang die mediale Debatte zum Präsidentschaftswahlkampf, auch weil er es mit Hilfe von rund 45 Millionen Dollar allein für Werbung auf Facebook, die rund 1,6 Milliarden Mal gesehen wurde, geschafft hatte, sich und seine Ideen zu präsentieren. Die meisten der anderen demokratischen Bewerberinnen und Bewerber ohne Milliarden auf dem eigenen Konto kamen schlicht nicht gegen die Übermacht Bloombergs in den sozialen Medien an.
Die zweite offene Flanke in Bezug auf politische Onlinewerbung ist die Schwierigkeit, überhaupt nachzuvollziehen, wer in Deutschland auf welche Weise mit welchen Targeting-Kriterien und mit viel Geld um die Gunst der Wählerschaft wirbt. Das ist aber gerade bei der Vielzahl an Anzeigen und deren algorithmischer Ausspielung wichtig, um für transparente, offene politische Kommunikation zu sorgen.
Ein Beispiel: Die hier im Artikel genannten Zahlen und Statistiken sind allesamt Schätzungen und basieren auf Angaben der Plattformen. Eine Überprüfung durch Forschung oder Medien ist aufgrund von Schwachstellen in den „Werbearchiven“ der Tech-Unternehmen nur schwer möglich. Es mangelt dort an detaillierten Informationen und die Informationen, die abrufbar sind, sind zu ungenau: Erfasst werden zum Beispiel der Preis, die für eine bestimmte Anzeige ausgegeben wurden, und die Anzahl der „Impressions“ – allerdings jeweils nur in sehr groben Spannen, etwa 50 bis 500 Euro oder eine bis zehn Millionen Impressions. Damit lässt sich kaum eine vernünftige Analyse von Wahlwerbung erstellen.
Um diese Herausforderungen anzugehen, braucht es klare Transparenz- und Rechenschaftspflichten, sowohl für Werbetreibende als auch für Plattformen. Auf europäischer Ebene bietet sich für Plattformregeln das geplante Digitale-Dienste-Gesetz („Digital Services Act“) an. Darin müsste etwa festgeschrieben werden, dass Plattformen ab einer bestimmten Größe und Reichweite Werbearchive mit definierten Standards vorhalten müssen. Auch Berichtspflichten zu den Werbe-Policies der Plattformen sind nötig, deren Einhaltung von unabhängiger Stelle geprüft werden können.
In Deutschland sind für politische Werbung die Länder zuständig, da dies in den Bereich der Medienregulierung fällt. Allerdings macht der neue Medienstaatsvertrag kaum konkrete Aussagen zu politischer Werbung im Netz. Eine Diskussion zu den Grenzen bezahlter politischer Kommunikation ist aber gerade für den Onlinebereich geboten. Es sollte zudem über eine Erneuerung und Erweiterung der Finanzaufsicht für Parteien nachgedacht werden. Aktuell ist diese Aufsicht dem Bundestagspräsidenten unterstellt. Seit Jahren wird aber zum Beispiel vom Europarat gefordert, sie unabhängiger zu gestalten.
Julian Jaursch ist Projektleiter beim gemeinnützigen Think Tank Stiftung Neue Verantwortung (SNV) und befasst sich dort unter anderem mit Fragen zum Umgang mit Desinformation, Plattformregulierung und politischer Onlinewerbung. Bei der SNV veröffentlichte er zuletzt ein Papier mit Handlungsoptionen für digitale Wahlkämpfe.