Standpunkte Deutschland sollte Kernkraft für KI nicht ausschließen

Wer bei Künstlicher Intelligenz vorn mitspielen will, muss als Volkswirtschaft die notwendige Energie für die Rechenzentren bereitstellen, argumentiert Dennis Gottschalk. Die USA und andere Länder wollen dafür neue Kernreaktoren bauen. Wenn Deutschland dies ausschließt, droht ihm auf dem KI-Markt das Abseits, warnt der Kernenergie-Experte von Arthur D. Little.
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Jetzt kostenfrei testenDie Tech-Riesen im Silicon Valley sind im KI-Fieber. Immer neue KI-basierte Anwendungen versprechen Wachstum für die kommende Dekade und werden die Services und Lösungen der Silicon Valley Granden gänzlich umkrempeln. Doch die schöne neue Technologiewelt birgt auch Schattenseiten: Eine einzige Anfrage an die KI-Anwendung ChatGPT verbraucht bis zu dreißigmal so viel Energie wie eine herkömmliche Suchmaschineneingabe und wird damit gerade zur umgangssprachlichen „Umweltsau“. Dieser Energiehunger steht im krassen Widerspruch zu den Nachhaltigkeitszielen der Branche.
Ausgerechnet die in Deutschland verpönte Kernkraft soll nun den Spagat zwischen CO2-Zielen und technischem Fortschritt für die Betreiber von Hyperscale-Rechenzentren ermöglichen. Ein besonderes Augenmerk liegt dabei auf der Nutzung sogenannter Small Modular Reactors (SMR). Binnen kurzer Zeit sorgten die US-Riesen Microsoft, Amazon, Oracle und Alphabet mit entsprechenden Ankündigungen für Schlagzeilen.
Auch in Europa ist der massive Ausbau von Data Center-Kapazitäten bereits in Planung. Telecom Italia beispielsweise plant Investitionen von rund 130 Millionen Euro zum Ausbau von Data Center-Infrastruktur nahe Rom. US-Tech Firmen planen weitere Investitionen von acht Milliarden US-Dollar, auch in Deutschland. Vorhaben, welche mit einem gewaltigen zusätzlichen Energiebedarf einhergehen und jegliche Klimaziele gefährden könnten.
Kernkraft könnte ein passender Baustein sein
Das KI-Zeitalter hat gerade erst begonnen, die Wachstumsraten sind heute kaum absehbar. Eine Herausforderung, für die nukleare Energielösungen wie ein passender Baustein aussehen. Anders als die Erneuerbaren ist Kernenergie wetter- und tageszeitunabhängig nutzbar – somit stets verfügbar – und, anders als fossile Energieträger, CO2-neutral.
Während Deutschland 2023 das letzte Kernkraftwerk vom Netz genommen hat, zeigt sich vielerorts auf der Welt eine Trendumkehr. In der EU sind heute konträre Ansätze zu beobachten: Frankreich baut aus, Polen steigt gerade erst ein und Deutschland hat sich verabschiedet. Sicher ist der Trend zurück zur Kernenergie auch getrieben durch geopolitische Konflikte, die vor allem den Nachschub von Gas und Öl infrage stellen.
Die Pipeline neuer Projekte füllt sich. Mit den Entscheidungen aus dem Silicon Valley scheint nun eine echte Renaissance der Technologie angebrochen. Microsoft etwa hat mit dem US Versorger Constellation Energy eine Stromkaufvereinbarung (Power Purchase Agreement) geschlossen. Im Zuge dessen soll Block 1 des stillgelegten Kernkraftwerks Three Mile Island 2028 zurück ans Netz gebracht werden und bis mindestens 2054 Strom erzeugen. Ob dieser Plan aufgeht, muss sich noch zeigen – nötige behördliche Freigaben stehen noch aus.
Andere Tech-Player setzen ihre Hoffnung währenddessen auf die Potenziale der Small Modular Reactors. Google beispielsweise wettet beim Ringen um klimaneutralen Fortschritt auf Entwicklungen bei den kleinen, modularen Reaktoren. Die Alphabet-Tochter hat einen Vertrag mit dem Start-up Kairos Power geschlossen, um bis 2030 den ersten SMR ans Netz zu bringen, gefolgt von weiteren Anlagen bis 2035.
Wirtschaftlich nur bei großangelegter, skalierbarer Produktion
Die Vorhaben der Tech-Größen sind zeitlich ambitioniert – noch handelt es sich hierbei schließlich um Pilotprojekte. Wie so oft, gilt derzeit die Volksrepublik China als Vorreiter der Technologie. Kein Wunder also, dass man in den USA nun zur Technologieoffensive ausgerufen hat. Dabei ist klar, dass die immensen Entwicklungskosten nur amortisiert werden können, wenn eine großangelegte und skalierbare Produktion stattfindet. Bleibt diese aus, steht die langfristige Wirtschaftlichkeit der Projekte auf wackeligen Beinen.
Punkten können SMRs unter anderem damit, dass sie wesentlich kleiner als herkömmliche Kernkraftwerke sind und sich somit platzsparend und mit einfacherer Kühlung verwenden lassen. Entsprechend liegt die Leistung jedoch mit 300 Megawatt deutlich unter der herkömmlicher Reaktoren. Die Modelle kommen entsprechend mit deutlich weniger Brennstoff aus, gelten insofern als sicherer für die Standorte. Andererseits kam ein Bericht des Institute for Energy Economics and Financial Analysis (IEEFA) 2024 zu dem Schluss, dass SMRs nach wie vor „zu teuer, zu langsam zu bauen und zu riskant" seien, um eine bedeutende Rolle bei der kurzfristigen Energiewende zu spielen.
Tech-Standort Deutschland unter Druck
Die technologischen Kernenergie-Initiativen aus Nordamerika, Russland, China aber auch dem Vereinigten Königreich und Frankreich erhöhen den wirtschaftlichen und politischen Druck auf den Standort Deutschland. Die Bundesrepublik ist ein wichtiger Knotenpunkt für Rechenzentren in Europa, insbesondere in Städten wie Frankfurt, wo sich mit dem DE-CIX einer der größten Internetknoten der Welt befindet. Die von Hyperscalern angekündigten massiven Investitionen zeigen die zunehmende Bedeutung des Standorts.
Gleichzeitig strebt Deutschland bis 2045 Netto-Null-Emissionen an und gibt entsprechende Forderungen hinsichtlich Nachhaltigkeit an ansässige Unternehmen weiter. Es braucht eine CO2-freie, zuverlässige und unterbrechungsfreie Stromversorgung. Kernenergie könnte diese Erwartung erfüllen und erneuerbare Energiequellen ergänzen sowie die Lücke in Zeiten geringer Wind- oder Sonneneinstrahlung schließen.
Eine Kehrtwende zurück zur Kernenergie in Deutschland, auch als mögliche Brückentechnologie, würde einen vielschichtigen Ansatz erfordern. Regulatorisch bräuchte es eine stärkere Ausrichtung auf neuartige Technologien, um beispielsweise Lizenzierungsverfahren zu beschleunigen – angesichts der hiesigen bürokratischen Hürden eine echte Herausforderung. Weiterhin wäre der (Wieder-)Aufbau inländischer Kapazitäten für Betrieb und Wartung von SMRs für einen nachhaltigen Einsatz von entscheidender Bedeutung. Auch die öffentliche Akzeptanz von Kerntechnik müsste in ausreichendem Maße, zum Beispiel durch Informationskampagnen, gewährleistet sein. Die Bereitstellung finanzieller Unterstützung sowie ein Nachweis wirtschaftlicher Tragkraft könnten private Investitionen darüber hinaus fördern.
„KI-Readiness“ muss verdient werden
Deutschland ist darauf angewiesen, den digitalen Anschluss nicht zu verpassen. Das realisiert auch die deutsche Spitzenpolitik – zuletzt medienwirksam vor allem CDU/CSU – und diskutiert inzwischen technologieagnostischer im Kontext der Energieerzeugung als noch vor einigen Jahren. Neben dem Ausbau erneuerbarer Energien wurde zwischen Union und SPD bis vor Kurzem eine Re-Aktivierung abgeschalteter Kernreaktoren diskutiert. Ebenso Investitionen in SMR oder Kernfusion.
Dass der Koalitionsvertrag nur noch die Kernfusion erwähnt, ist keine gute Nachricht. Gilt es doch, Denkhorizonte zu eröffnen, die bis vor Kurzem verschlossen waren. „KI-Readiness“ ist für die Bundesrepublik nicht per se gegeben, sondern muss verdient werden. Es gilt daher, Energieoptionen strukturiert und objektiv zu bewerten und eine tragfähige Lösung zu finden. Es sollte ein kohärenter Ansatz entwickelt werden, der Energieversorger, Industrie, Politik und Regulierung zusammenbringt.
Dennis Gottschalk ist Principal und Koordinator des globalen Kompetenzzentrums für Kernenergie der Strategieberatung Arthur D. Little mit Sitz in der Schweiz.
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