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Digitalisierung & KI

Standpunkte Ein Internet für alle Menschen

Foto: Universität Graz

Wir brauchen keinen neuen Grund- und Menschenrechte für das „Internetzeitalter“. Die bereits geltenden Regeln reichen aus. Sie müssen nur technologiesensibel angewandt werden, argumentiert Matthias Kettemann vom Leibniz-Institut für Medienforschung.

von Matthias C. Kettemann

veröffentlicht am 05.06.2019

aktualisiert am 06.06.2019

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4,4 Milliarden Menschen haben Internetzugang. Das heißt aber auch: 3,3 Milliarden noch nicht. Marginalisierungen werden durch das Internet nicht nur überwunden, sondern zum Teil auch fortgeschrieben. Selbst in hochtechnisierten Gesellschaften finden sich kommuni­kations­technologisch abgehängte Menschen, gerade multipel Diskriminierte leiden unter er­schwer­ten Zugangsmöglichkeiten. Dabei ist das Recht auf Internetzu­gang Vorbedingung der Realisierung vieler anderer Menschenrechte, von der Meinungsäußerungsfreiheit bis zum Recht auf Bildung.

Der Mensch im Mittelpunkt

Gerade die Vereinten Nationen haben schon früh erkannt, dass das Internet der menschlichen Entwicklung dienen muss. Im Rahmen des UN-Weltgipfels zur Informationsgesellschaft (WSIS) bekannten sich die Staaten der Welt zu einer „den Menschen in den Mittelpunkt stellenden, inklusiven und entwicklungsorientierten Informationsgesellschaft“. Diese ist gestützt auf die Ziele und Grundsätze der Charta der Vereinten Nationen, das Völkerrecht und den Multilateralismus sowie die „volle Achtung und Einhaltung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“.

Dieses Bekenntnis stimmt nicht mit der gelebten Realität überein – und das ist ein Problem, das wir als Gesellschaft mit den Mittel des Rechts, aber auch der Politik und der Bildung mit Nachdruck angehen müssen: systemstabilisierende völkerrechtliche Verträge, grundrechtssensible nationale Gesetze, individueller und kollektiver Aufbau von Medienkompetenz und „Mainstreaming“ des Themenfeldes Internet mit seinen Chancen und Risiken in alle Bereiche nationaler Politik.

Internet als Hort der Gefahr? 

Viele Staaten haben inzwischen offensive Cyber-Kapazitäten aufgebaut. Während Cyber-Abwehr gerade in Hinblick auf kritische Infrastruktur wichtig ist, darf diese nicht offensiv ausgestaltet sein oder präventiv geführt werden. Das Internet darf nicht für Attacken gegen die politische Integrität anderer Staaten missbraucht werden. Die völkerrechtliche Verpflichtung aller Staaten, die Integrität, Stabilität und Funktionalität des Internets zu schützen, muss erhärtet werden. Autoritäre Regime missbrauchen das Internet zur Überwachung der Opposition und zur Lancierung von Falschnachrichten. Bloggerinnen und Blogger werden verhaftet, die Zensurmaschinerie aufgerüstet. Eine menschenrechtssensible Cyberaußenpolitik muss hier den Wertekatalog des Grundgesetzes und die international gültigen Menschenrechte über die Grenzen Deutschlands tragen. Der Einsatz individuelle Freiheitsräume bewahrender Technologien (Privacy by Design, Ende-zu-Ende-Verschlüsselung, VPNs) ist zu fördern.

Im Internet sind Hassrede und Desinformation wichtige Kommunikationsphänomene geworden. Gegen diese sind je unterschiedliche Maßnahmen verschiedenen Charakters zu setzen, von Gesetzen über Gegenrede, von Richtigstellungen zu plattformübergreifenden Maßnahmen. Sie müssen aber alle auf der staatlichen und unternehmerischen Verantwortung der Sicherung der Grund- und Menschenrechte beruhen.

Was können wir tun?

Während inzwischen bei allen in der Politik angekommen sein sollte, dass der Klimawandel eine Gefahr für die Welt darstellt, ist die zentrale Infrastruktur des Internets formal noch großteils ungeschützt. Kein völkerrechtlicher Vertrag schützt den öffentlichen Kern des Internets. Dabei hat schon 2017 die Global Commission for Stabiliy in Cyberpace vorgeschlagen, universell geltende Normen zum Schutz der Stabilität und Integrität des Internets zu verabschieden: staatliche und nicht-staatliche Akteure sollten keine Maßnahmen – selbst Gesetze – mehr setzen dürfen, die technische Essentialien des Internets (IP-Adressen, Router, Internetknotenpunkte, Unterseekabel) gefährden.

Zuletzt hatten sich in Paris 64 Staaten und fast 700 nicht-staatliche Akteure im Paris Call zu mehr Vertrauen und Sicherheit im Cyberspace bekannt. Auch der zunehmend erstarkende völkergewohnheitsrechtliche Schutz des Internets, besonders durch Konkretisierung der Pflichten, die aus dem Kooperationsprinzip fließen, macht Hoffnung. Staaten müssen in Anwendung des Grundsatzes der guten Nachbarschaft dafür sorgen, dass ihr Territorium nicht missbraucht wird, um anderen Staaten Schäden zuzufügen. Dies bedeutet auch, dass sie dem Präventionsprinzip folgende Schutzmaßnahmen ergreifen müssen, die für mehr Stabilität und Sicherheit im Internet sorgen. Regierungspläne für Hackbacks und mehr Spionagekompetenzen für Geheimdienste im Internet deuten da in eine problematische Richtung. Die Bedeutung der Kooperation gegen Gefahren im Internetraum wird auch am 10. Juni evident werden, wenn Melinda Gates von der Bill & Melinda Gates Foundation und Jack Ma, Gründer des chinesischen Tech-Riesen Alibaba,  dem UNO-Generalsekretär António Guterres die Ergebnisse des High-level Panel on Digital Cooperation vorlegen. Zwei weitere Arbeitsgruppen der Generalversammlung suchen ab 2019 die internationale Verständigung über das Völkerrecht des Internets.

Menschenrechte gelten

Zurück zu den Menschen: Menschenrechte gelten im Internet, offline wie online. Schon 2012 hat dies der Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen in einer Resolution bestätigt. Wir brauchen – allen „Digitalchartas“ zum trotz – keine neuen „digitalen Menschenrechte“. Wir haben gute, belastbare Grund- und Menschenrechte aus der „Offline-Welt“, die wir im Internetzeitalter gefährdungssensibel anwenden müssen. Dies gilt auch (abgestuft) gegenüber privaten Akteuren: Die grundrechtlichen Schutzlücken im Bereich der Massenkommuni­kationsfreiheit im Internet können gefüllt werden, indem die Grundrechte von ihrem Zweck her gedacht werden und grundrechtliche Gewährleistungsgehalte sensibel umgesetzt werden.

Die Drittwirkung von Grundrechten auch zwischen Privaten wird wichtig in Zeiten großer Machtdifferenzen zwischen einzelnen Userinnen und Usern und globalen Internetfirmen. Neben meinungsäußerungsfreundlichen Filterpraktiken ist auch ein grundrechtssensibles Algorithmendesign mit Blick auf spezifische gesellschaftliche und besonders gruppenspezifische Gefährdungslagen und Diskriminierungspotenziale essenziell.

Freie Internetkommunikation ist so voraussetzungsreich wie entscheidend für eine offene Debatte, die den gesellschaftlichen Zusammenhalt fördert. Auch die Integrität des Internets ist von Voraussetzungen abhängig, die es selbst nicht hervorbringen kann: Wir brauchen das Recht, gerade das Völkerrecht, um das Internet zu stabilisieren und die Menschenrechte, um die Potenziale des Internets für die Menschen zu realisieren. Während der Schutz der Kerninfrastruktur des Internets durch Völkerrecht noch einer Kristallisierung bedarf, sind die Menschenrechte bereits jetzt vollumfänglich auf das Internet anzuwenden. Wir brauchen keine neuen Grund- und Menschenrechte für das „Internetzeitalter“, wir müssen schon jetzt geltende Regeln technologiesensibel anwenden und die richtigen Lehren aus Jahrzehnten grund- und menschenrechtlicher Judikatur ziehen.

Matthias C. Kettemann ist Leiter des Forschungsprogramms „Regelungsstrukturen und Regelbildung in digitalen Kommunikationsräumen“ am Leibniz-Institut für Medienforschung. Er habilitierte sich im Internetrecht an der Goethe-Universität Frankfurt. Heute wird er bei einem Mittagsgespräch der Deutschen Gesellschaft für die Vereinten Nationen (DGVN) und Gyde Jensen, FDP-Bundestagsabgeordnete und Vorsitzende des Ausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe des Bundestags, teilnehmen. Thema der Diskussion sind die Auswirkungen der Digitalisierung auf Menschenrechte.

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