Digitalisierung-KI icon

Digitalisierung & KI

Standpunkte Europa muss wieder lernen zu gewinnen

André Loesekrug-Pietri, wissenschaftlicher Direktor der Joint European Disruptive Initiative (Jedi), und Leonhard Birnbaum, CEO von Eon
André Loesekrug-Pietri, wissenschaftlicher Direktor der Joint European Disruptive Initiative (Jedi), und Leonhard Birnbaum, CEO von Eon Foto: Jedi, Eon

Weckrufe gab es eigentlich genug, trotzdem gleicht Europa einem taumelnden Boxer ohne Kompass, Ideen oder Energie. Eon-Chef Leonhard Birnbaum und André Loesekrug-Pietri, Vorsitzender von Jedi fordern daher neuen Mut und gemeinsame europäische Aktivitäten.

von Leonhard Birnbaum und André Loesekrug-Pietri

veröffentlicht am 25.02.2025

Lernen Sie den Tagesspiegel Background kennen

Sie lesen einen kostenfreien Artikel vom Tagesspiegel Background. Testen Sie jetzt unser werktägliches Entscheider-Briefing und erhalten Sie exklusive und aktuelle Hintergrundinformationen für 30 Tage kostenfrei.

Jetzt kostenfrei testen
Sie sind bereits Background-Kunde? Hier einloggen

Vae victis. Wehe den Besiegten. Dieses Motto scheint derzeit Elon Musk zu inspirieren, der sich offen in die europäische Politik einmischt und die Schwächen eines Kontinents ausnutzt, dessen Indikatoren auf Rot stehen. Vor zwanzig Jahren waren Europäer und Amerikaner wirtschaftlich gleichauf; heute sind Amerikaner 30 Prozent wohlhabender. Von Lissabon bis Bukarest ist die Lage ernst: eine angeschlagene Industrie, die unter einer konzeptlosen Energiepolitik leidet, Insolvenzen von Vorzeigeunternehmen wie Northvolt oder Lilium, Automobilhersteller, die der chinesischen Konkurrenz immer weniger standhalten, massive Abhängigkeit von Energie und Rohstoffen sowie eine fast vollständige Dominanz der USA und Chinas in Zukunftsbranchen wie Künstliche Intelligenz, Raumfahrt, Halbleiter oder Genetik. Politisch wächst die Zahl der Länder, die an Extreme abrutschen: Nach Ungarn, Italien, der Slowakei und Österreich – folgen bald Deutschland oder Frankreich?

Wie reagiert Europa auf diese Krise? Mit Empörung über einen, der unsere Schwächen ausnutzt – aber ohne konkrete Maßnahmen oder Reaktionen auf die Einschüchterungspolitik, wie zuletzt in Grönland. Es grenzt an Unterwürfigkeit: Politiker, die in Mar-a-Lago das Knie beugen, oder Appelle, US-Flüssiggas zu kaufen. Wir erkennen nicht, dass wir selbst den Baum geschwächt haben, den Musk nun schüttelt – und so Gegner liberaler Demokratien stärken. Kurz gesagt: Uns fehlt der Mut, die Ursachen unserer Schwäche anzugehen.

Die politische Debatte in Brüssel ist voll von Berichten, die längst als Weckruf hätten dienen müssen: Draghi spricht von einer existenziellen Herausforderung, Letta wirbt eindrücklich für ein Update des Binnenmarkts... und dennoch: In den letzten sechs Monaten gab es keinen Fortschritt. Der Heitor-Bericht fordert, dass das riesige Horizon-Forschungsprogramm an die strategische Agenda der EU angelehnt wird. Bedeutet das, dass die fast 100 Milliarden Euro bisher ohne Strategie verteilt werden?

Nur ein Fünftel der Strafen wurden gezahlt

Ein weiteres Paradox: Seit der Invasion der Ukraine gingen 78 Prozent der zusätzlichen Militärausgaben an nicht-europäische Ausrüstung – aus Angst, die USA zu verärgern, und wegen der Unfähigkeit, eine kriegsfähige Wirtschaft aufzubauen. Trotz aller Reden über „hybride Kriegsführung“ gibt es keine entschlossene Offensive gegen Desinformation – selbst nachdem Tiktok nachweislich eine Wahl beeinflusst hat. Der Digital Services Act der EU ist theoretisch stark – aber was nützt das, wenn Sanktionen wie beim Datenschutz oder im Kartellrecht zehn Jahre brauchen? Von den 25 Milliarden Euro verhängter Strafen wurden in 15 Jahren nur 5 Milliarden gezahlt! Der „Brüssel-Effekt“ scheint auf eine ineffektive Umsetzung und eine rein defensive Haltung hinauszulaufen. Europa definiert nicht mehr seine Zukunft – andere tun es für uns.

Unsere Institutionen sind erschöpft – schlimmer noch: Sie leugnen das selbst verursachte Desaster. Der Green Deal wurde übertrieben und vertreibt die Industrie, zahllose Vorschriften bereichern Berater und belasten Unternehmen, die Zersplitterung der Aufsichtsbehörden in den Bereichen Digitales, Gesundheit und Energie schwächt uns – doch niemand wagt Reformen, um endlich den echten Binnenmarkt zu schaffen, den alle fordern. Die EU hat sich 2024 eine fast einjährige „Pause“ gegönnt, bis die neue Kommission am 1. Dezember startete – eine unzumutbare Lähmung im Zeitalter der KI und technologischen Disruption. Ein krasser Gegensatz zu einem US-Präsidenten, der schon vor Amtsantritt handlungsfähig war. Europa gleicht einem taumelnden Boxer ohne Kompass, Ideen oder Energie.

Europa muss wieder in die Offensive gehen. Wir brauchen leistungsfähige Führung und Institutionen, die Ergebnisse liefern – in Bildung, Sicherheit, technologischer Spitzenstellung, Unternehmensfreundlichkeit, qualifizierter Beschäftigung, demokratischem Dialog und öffentlicher Gesundheit.

Wir müssen unsere Kräfte entfesseln – durch massive Vereinfachung der übermäßigen Auflagen für Unternehmen und Zivilgesellschaft. Nur dann können wir höhere gesellschaftliche Verantwortung einfordern. Schluss mit Subventionen, die lediglich über eine erdrückende Steuerlast hinwegtäuschen, die im Nirgendwo versickert. Wir brauchen Kreativität und eine demokratische Erneuerung: mit viel stärkerer direkter Bürgerbeteiligung und einer Differenzierung der Mandatsdauer – langfristig für Bildung und Infrastruktur, kurzfristiger für politische Verantwortung.

Schließlich muss Europa dort, wo es gemeinsam handeln muss – in Geopolitik, Innovation, Handel, Gesundheit, Energie und Grenzschutz – endlich als Einheit agieren. Für alle anderen Themen sollten wir die Vielfalt unserer Länder und Regionen als Quelle für Wettbewerb, Kreativität und Bürgerbeteiligung nutzen.

Europa muss wieder lernen zu gewinnen.

André Loesekrug-Pietri ist Vorsitzender und wissenschaftlicher Direktor von der Joint European Disruptive Initiative (Jedi), die europäische Initiative für Sprunginnovationen (Europäische Arpa).

Leonhard Birnbaum ist CEO von Eon.

Lernen Sie den Tagesspiegel Background kennen

Sie lesen einen kostenfreien Artikel vom Tagesspiegel Background. Testen Sie jetzt unser werktägliches Entscheider-Briefing und erhalten Sie exklusive und aktuelle Hintergrundinformationen für 30 Tage kostenfrei.

Jetzt kostenfrei testen
Sie sind bereits Background-Kunde? Hier einloggen