Die Digitalisierung verändert alle Lebensbereiche – von Alltagsanwendungen wie Routenplanern bis hin zu hochspezialisierten Industrierobotern. Damit ist die Digitalisierung nicht nur ein Milliardenmarkt, der Wohlstand in Europa halten und neuen schaffen kann, sondern auch eine Chance, die Art und Weise wie wir leben, wirtschaften und arbeiten zum Positiven zu verändern. Ob intelligente Mobilitätslösungen für weniger Verkehr in den Städten, smarte Stromnetze für den schnellen Umstieg auf erneuerbare Energien oder bessere Teilhabe von Menschen mit Behinderungen durch digitale Assistenzsysteme. In zahlreichen Bereichen können digitale Anwendungen einen positiven Beitrag leisten.
Unser Anspruch in Deutschland und Europa muss es sein, die
neuen Technologien zum Wohle von Menschen und Umwelt einzusetzen. Diesen
Anspruch können wir jedoch nur dann verwirklichen, wenn wir tatsächlich selbst
über die Anwendungsfelder und Rahmenbedingungen entscheiden können. Dafür
müssen wir die digitalen Technologien wie Künstliche Intelligenz (KI)
beherrschen, eigenständig entwickeln und selbstbestimmt einsetzen können. Nur
so können wir Abhängigkeiten von
amerikanischen und zunehmend chinesischen Unternehmen verhindern, die oft
andere Schwerpunkte setzen oder nicht unseren Ansprüchen an Datenschutz,
Transparenz oder Diskriminierungsfreiheit genügen.
Nicht den Anschluss verlieren
Um unsere digitale Souveränität zu erhalten beziehungsweise zurückzugewinnen, müssen wir konsequent europäisch denken, handeln und investieren. Denn nur gemeinsam haben wir die kritische Masse, die wir brauchen, um in der digitalen Champions League mitzuspielen. Mit 27 oder 28 nationalstaatlichen Alleingängen werden wir es kaum über die Regionalliga hinaus bringen. Um im globalen Wettbewerb der Innovationen nicht den Anschluss zu verlieren, müssen wir in Europa unsere Stärken ausspielen. Die Bundesregierung will bis 2025 drei Milliarden Euro in Künstliche Intelligenz investieren. Verglichen mit den Ausgaben in den USA und Asien, ist das erschreckend wenig, zumal bisher gerade mal die ersten 500 Millionen verteilt sind. Aber wenn wir in Europa mutig gemeinsam investieren, dann haben wir durchaus eine Chance. Deutschland hat 82 Millionen Einwohner. Auch das ist im internationalen Vergleich nicht viel. Doch im europäischen Binnenmarkt leben 500 Millionen Menschen und damit mehr als in den USA.
Bundesregierung denkt zu beschränkt
Auch innerhalb eines europäischen Ansatzes sind die Nationalstaaten gefragt. Deutschland muss seine digitalpolitischen Hausaufgaben machen und zum Beispiel die nötige digitale Infrastruktur in Zukunftsbereichen wie Mobilität, Gesundheit oder Bildung aufbauen. Wichtig ist aber, dass die nationalstaatlichen Strategien von Anfang an europäisch angelegt und umgesetzt werden. Wer zunächst auf nationale Projekte setzt, verliert wertvolle Zeit. Frankreich hat das erkannt. Die französische KI-Strategie trägt den Untertitel „Towards a French and European Strategy“. In Deutschland prangen auf der explizit nationalen KI-Strategie dagegen schwarz-rot-goldene Buchstaben und der Zusatz „AI made in Germany“. Hier denkt die Bundesregierung zu beschränkt, anstatt Chancen der Zusammenarbeit beherzt zu ergreifen.
Nicht nur Spielregeln machen, sondern auch Anwendungen
Wenn wir die Digitalisierung aktiv gestalten wollen, dann müssen wir in Europa auch vorne mitspielen bei der Erforschung, Entwicklung und Anwendung digitaler Lösungen. Da reicht es nicht, sich das Geschehen vom Spielfeldrand anzuschauen und zu kritisieren, wenn einem eine Entwicklung nicht gefällt. Mit der DSGVO hat Europa gezeigt, dass es in der Lage ist, globale Standards zu setzen, wenn es um den regulatorischen Rahmen der digitalen Welt geht. Und auch bei der Entwicklung ethischer Prinzipien für Künstliche Intelligenz hat die EU bereits den Bericht der High Level Expert Group vorzuweisen. Ethische Spielregeln zu entwickeln ist essenziell für das Vertrauen in eine neue Technologie. Doch der europäische Gestaltungswille darf sich nicht darin erschöpfen. Auch die digitalen Anwendungen selbst müssen in Europa entwickelt und auf den Markt gebracht werden. Nur so können wir unsere technologische Unabhängigkeit erhalten und sicherstellen, dass auch künftig Wohlstand in Europa geschaffen wird.
Damit die Digital- und KI-Branche in Deutschland und Europa
international erfolgreich sein kann, brauchen wir starke Ökosysteme, in denen
Spitzenforschung, Unternehmen und Start-ups zusammenkommen und international
Talente anziehen. Enge Kooperationen aus Wissenschaft, Unternehmen und Start-ups
ermöglichen zudem einen schnelleren Transfer der Forschungsergebnisse aus dem
Labor auf den Markt. Besonders für KI-Anwendungen muss dafür auch der Austausch
von Daten zwischen Forschungseinrichtungen, Unternehmen und öffentlicher Hand
gefördert werden. Das Cyber Valley
in Tübingen und Stuttgart zeigt bereits erfolgreich wie das gehen kann. Darüber
hinaus müssen wir den einheitlichen europäischen Rahmen für datengetriebene
Geschäftsmodelle stärken und die entsprechende Dateninfrastruktur aufbauen. Denn wenn Unternehmen und Behörden
Daten häufiger teilen anstatt sie nach bisheriger Manier nur zu horten und
unter Verschluss zu halten, dann fördert das Innovationen.
Digitale Innovationen auf Grundlage europäischer Werte entwickeln
Europa kann sich als echte Alternative zu den USA und China etablieren. Anstatt auf übermächtige Digitalkonzerne US-amerikanischer Prägung sollten wir in Europa auf unternehmerische Vielfalt und fairen Wettbewerb setzen. Anstatt die digitalen Technologien in den Dienst eines Überwachungsstaates zu stellen, stehen in Europa ökologische Potenziale, gesellschaftliche Gerechtigkeitsfragen, Grund- und Freiheitsrechte im Zentrum. Unsere Stärken wie hohe Datenschutz- und Sicherheitsstandards können zu einem Markenkern werden, wenn wir sie konsequent auch in die Anwendung bringen. So können neue digitale Innovationen in Europa entstehen, die auf Grundlage unserer gemeinsamen Werte wie Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichberechtigung und Rechtsstaatlichkeit entwickelt wurden.
Anna Christmann ist Sprecherin für Innovations- und Technologiepolitik der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen und Obfrau in der Enquete-Kommission Künstliche Intelligenz. Eine andere Perspektive auf die Debatte um digitale Champions vertritt an dieser Stelle am Montag Lars Zimmermann (public.io).