Europa fällt zurück. Die EU ist zu träge und zu bürokratisch. In der Wirtschaft den Anschluss verloren. Bei der Digitalisierung ins Hintertreffen geraten. Das Zeugnis, das Mario Draghi Europa ausstellt, ist düster. Es tut weh. Und macht nachdenklich. Aber: Überraschend ist es nicht. Auch wenn es um die Digitalisierung geht.
Dass wir uns bei der Entwicklung der großen Zukunftstechnologien gern verzwergen, jeder am liebsten seinen eigenen Weg geht, darüber wurde viel gesprochen. Dass wir uns bei Netzausbau und Infrastruktur mit Auflagen ausbremsen, statt aufs Tempo zu drücken, ist bekannt. Dass wir zu wenig Anreize schaffen, um die Kreativen und die Gründer nach Europa zu holen, wird oft beklagt. Doch nachhaltig geändert haben wir die Dinge nicht.
Die Draghi-Analysen sollten uns nicht in Schock-Starre versetzen. Wir sollten sie als positiven Weckruf sehen. Und dieses Mal wirklich ins Machen kommen. Denn wir können so viel mehr: wenn wir die Grundidee von Europa aufs Digitale übertragen. Stehen wir gemeinsam ein für mehr Digitalisierung in Europa. Und für mehr Europa bei der Digitalisierung auf unserem Planeten. Indem wir die Dinge zusammen anpacken und beginnen sie zu ändern, mit Optimismus, Mut und Risikobereitschaft. Mit diesen vier Punkten sollten wir im Telekommunikationssektor jetzt starten:
Erstens: Schließen wir uns zusammen, um schlagkräftiger zu agieren
Fast 450 Millionen Bürgerinnen und Bürger leben in der EU auf rund vier Millionen Quadratkilometern Fläche. Wir spielen in einer Liga mit den USA, wo es etwa 340 Millionen Menschen auf neun Millionen Quadratkilometern Fläche gibt. In beiden Regionen nutzen fast alle Menschen mittlerweile ein Smartphone. Aber: In den USA bauen drei Netzbetreiber Masten und Antennen, um die Menschen mit schnellen Netzen zu versorgen, in Europa sind es fast 100. Im Schnitt baut ein Netzbetreiber in den USA also für mehr als 113 Millionen potenzielle Kunden, während es in Europa im Schnitt gerade einmal fünf Millionen sind.
Den europäischen Netzbetreibern fällt es schwer, zumindest die Kapitalkosten zu verdienen. Die Konsequenz: Im internationalen Vergleich können wir nicht schlagkräftig genug in die Infrastruktur investieren, weil die Mittel bei jedem Einzelnen zu gering sind. Wir verzwergen uns. Und bremsen uns damit aus. Wenn wir bei 6G vorne mit dabei sein wollen, dann müssen wir jetzt den Weg frei machen für unkomplizierte, landesübergreifende Zusammenschlüsse, um stärkere europäische Infrastruktur-Spieler aufzubauen. Das beginnt mit einer Offenheit für mehr Skalierung und damit für die Schaffung echter globaler Telko-Champions „Made in Europe“. Dafür muss das EU-Wettbewerbsrecht angepasst werden.
Zweitens: Setzen wir auf einheitlichere Spielregeln für schnelleren Netz-Ausbau
27 Nationen in der EU bringen heute 27 unterschiedliche Spielregeln für den Ausbau der Mobilfunknetze hervor. Jedes Land geht seinen eigenen Weg. Wenn wir es ernst meinen mit der digitalen Europäischen Union, dann brauchen wir ein klares Regelwerk für schnelle Netze. Mit einheitlichen Vergabeverfahren für Mobilfunkfrequenzen und klaren Zeitplänen für den Netz-Ausbau.
Statt milliardenschwerer Auktionen, wie wir sie aus der Vergangenheit in Deutschland kennen, brauchen wir moderne Rezepte, um Funk-Frequenzen zu verteilen und effektiv zu nutzen. Getreu dem Motto: Wer viele Frequenzen bekommt, soll auch viel Netz ausbauen. Netzausbau statt Lizenzpapier-Dschungel muss das große Ziel für Europa sein. Gleiches gilt für Genehmigungsverfahren. Die Marschroute muss heißen: das Regelwerk schlanker aufstellen, damit wir beim Ausbau schneller vorankommen.
Drittens: Schauen wir genau hin und schützen den fairen Wettbewerb
Wo Wettbewerb entstehen soll, braucht es auch jemanden, der genau „hinschaut“. Denn jedes faire Spiel braucht einen guten Schiedsrichter, der eingreift, wenn es nötig ist. Für den Europäischen Telekommunikationsmarkt bedeutet das: Die Behörden müssen dafür sorgen, dass niemand seine Marktmacht so ausweitet, dass er sie missbrauchen kann. Im deutschen Festnetzmarkt gewinnt zum Beispiel der ehemalige Monopolist aktuell wieder leicht an Marktanteil. Ein Vorgang, der in anderen EU-Ländern nicht zu beobachten war und am Ende für die Internetnutzer bedeuten könnte: Abhängigkeit statt Wahlfreiheit. In solchen Fällen muss rechtzeitig gegengesteuert werden – im Sinne des fairen Wettbewerbs.
Viertens: Verabschieden wir altes Kupfer in den Ruhestand und setzen aufs Gigabit für alle
Das Ende der alten Kupfer-Leitungen rückt näher. Die EU hat eine europaweite Abschaltung bis 2030 ins Spiel gebracht. Und schlägt damit den richtigen Weg ein. Jetzt geht es darum, diesen Weg erfolgreich zu bestreiten. Auch für Deutschland ist das einer der größten Wendepunkte, die es im Breitband je gegeben hat: Für fast 24 Millionen Haushalte gibt es die Chance auf schnelleres Internet.
Damit das gelingt, müssen wir jetzt beginnen, das Ende vom Kupfer zu planen. Es braucht jetzt einen transparenten Fahrplan, wie die Abschaltung vom alten Kupfer gelingen soll. Einen Fahrplan, der den Wendepunkt zum echten Antrieb für den Gigabit-Ausbau macht. Und nicht zum Bremsklotz, weil er einzig und allein einem Anbieter hilft: nämlich dem, der viel zu lange auf das langsame Kupfer gesetzt hat.
Der Weg dahin: Optimistischer. Mutiger. Risikofreudiger.
Europa ist ein grandioses Projekt. Ich bin Niederländer und arbeite als Deutschland-CEO der globalen Vodafone. Für dieses Unternehmen war ich auch schon in Irland tätig und habe dort gemeinsam mit meiner Frau und meinen Kindern gelebt. Mein Sohn und meine Tochter sind dort zur Schule gegangen. Sie haben dort Freunde gefunden und das kleine Ein-Mal-Eins gelernt. Unkompliziert und einfach. Weil wir in Europa still und heimlich Dinge alltäglich gemacht haben, die vor Jahrzehnten undenkbar waren. Dinge, auf die die allermeisten von uns sicher nicht mehr verzichten wollen. Dinge, die wir so richtig vermutlich erst dann schätzen würden, wenn sie nicht mehr selbstverständlich wären.
Die aktuellen Herausforderungen sind groß – in der Wirtschaft und auch bei der Digitalisierung. Der Weckruf ist unsanft. Aber: Er kann der Startschuss für eine richtig gute Zukunft sein. Wenn wir uns von ihm nicht lähmen lassen und im Tal der Tränen versinken, sondern jetzt beginnen, es anders zu machen. Schonungslose Kritik ist zumeist der Startpunkt für große Verbesserungen.
In Europa haben wir in der Vergangenheit oft bewiesen, wie gut wir sein können, wenn’s drauf ankommt. Wenn wir mit Optimismus, Mut und Risikobereitschaft gehandelt haben. Wenn jeder Verantwortung übernimmt. So sollten wir es auch jetzt tun. Mit klaren Spielregeln, hoher Durchschlagskraft und einem gemeinsamen Ziel: Bei der digitalen Revolution ganz vorne mitzuspielen – gemeinsam, statt jeder für sich. Stehen wir ein für mehr Digitalisierung in Europa. Und für mehr Europa bei der Digitalisierung. Für eine echte digitale Zeitenwende.
Marcel de Groot ist seit April CEO von Vodafone Deutschland, zuvor arbeitete er bei dem Unternehmen als Geschäftsführer des Privatkundengeschäfts. De Groot ist seit mehr als 16 Jahren für Vodafone tätig und verantwortete in der Vergangenheit unter anderem die Privatkundenbereiche in den Märkten in Irland und den Niederlanden.