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Digitalisierung & KI

Standpunkte Umsetzungswende für die Verwaltungsdigitalisierung

Axel Domeyer, Partner bei McKinsey, und Marina Lessig, Managerin bei Orphoz Public
Axel Domeyer, Partner bei McKinsey, und Marina Lessig, Managerin bei Orphoz Public Foto: McKinsey/Sebastian Unterreitmeier-Lessig

Die Verwaltungsdigitalisierung hat ein Umsetzungsproblem, finden Axel Domeyer von McKinsey und Marina Lessig von Orphoz Public. Besonders behördenübergreifende Großprojekte bräuchten oft zu lange, um Nutzen zu liefern, konstatieren sie im Standpunkt. Eine Zielsetzung könne sein, neue IT- und Digitalprojekte innerhalb einer Legislaturperiode erfolgreich abzuschließen. Dabei könnten verschiedene „Nutzenbeschleuniger“ helfen.

von Axel Domeyer und Marina Lessig

veröffentlicht am 06.12.2024

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Laut einer Studie von McKinsey und Oxford Global Projects dauern etwa 80 Prozent der großen IT-Projekte mit Budgets von über 15 Millionen Euro im öffentlichen Sektor länger als geplant – im Schnitt 47 Prozent. Und knapp die Hälfte der Projekte überschreitet ihr Budget: durchschnittlich um mehr als doppelt so viel wie geplant. Ob die Projekte auch den gewünschten Effekt haben, ist kaum nachzuvollziehen – nur drei von über 2.900 in der Studie untersuchten Projekten messen die Realisierung des Nutzens nach Projektende.

Die Herausforderungen zeigen sich in Deutschland besonders an behördenübergreifenden Großprojekten. Diese dauern oft mehr als fünf Jahre und haben Budgets im dreistelligen Millionenbereich oder höher. Gleichzeitig sind ihre Erfolge in der Öffentlichkeit bislang nur wenig wahrnehmbar. So entsteht der Eindruck, dass der Staat bei der Digitalisierung hinterherhinkt. Bei derartigen Projekten ändern sich zudem während der Umsetzung oft die technologischen und politischen Rahmenbedingungen. Wird daraufhin das Vorgehen angepasst, verursacht dies häufig weitere Kosten und Verzögerungen.

Wie lassen sich gerade behördenübergreifende Projekte so gestalten, dass ihre Erfolgswahrscheinlichkeit steigt? Erfahrungen aus solchen Vorhaben zeigen, dass insbesondere siebenNutzenbeschleuniger“ helfen können, diese schneller und besser umzusetzen.

1. Ohne „Nutzeninkasso“ keine Mittel freigeben

Ein Projekt lässt sich nur dann sinnvoll planen und umsetzen, wenn klar ist, welcher Nutzen erzielt werden soll, und wenn der Fortschritt regelmäßig gemessen wird. Dann ist es möglich, Ressourcen zielgerichtet einzusetzen und nachzusteuern, wenn der Erfolg nicht rechtzeitig eintritt.

Behördenübergreifende IT- und Digitalprojekte basieren meist auf politischen Entscheidungen. In den entsprechenden Gesetzen oder politischen Erklärungen werden typischerweise abstrakte Ziele formuliert, um die Interessen möglichst vieler Stakeholder zu berücksichtigen. Dabei sind meist noch keine messbaren Nutzenindikatoren definiert. Dies wäre die Aufgabe der Projektverantwortlichen, die jedoch nach Antritt ihrer Position meist unmittelbar unter Umsetzungsdruck stehen. Die eigentlich unverzichtbare Abstimmung mit den Stakeholdern darüber, wie der Nutzen beziffert wird und wann er realisiert sein sollte, wird deshalb oft vernachlässigt.

Projektverantwortliche müssen die Möglichkeit haben, ihr Vorgehen zu konkretisieren und zu pilotieren, bevor sie fest zusagen, wann welcher Nutzen eintritt und wie er zu messen ist. Nach einer Startphase mit klar definiertem Zeit- und Kostenrahmen sollte die Politik dann keine weiteren Mittel freigeben, ohne dass ein „Nutzeninkasso“ erfolgt.

2. Legoprinzip nutzen

Großprojekte können nur erfolgreich sein, wenn das Vorhaben im verfügbaren Zeitraum zu bewältigen ist. Dazu sollte der Gesamtumfang zerlegt werden in kleine, für sich genommen funktionsfähige Bausteine. Viele private Unternehmen folgen mittlerweile der Faustregel, dass ein Umsetzungsmodul nicht länger als drei Monate dauern und nicht mehr als 300.000 Euro kosten sollte.

Theoretisch ist das Potenzial gemeinsamer digitaler Lösungen der Verwaltung hoch – sie können die Nutzerfreundlichkeit erhöhen und ermöglichen Synergien bei den IT-Ausgaben. Doch die Realisierung dieser Vorteile erfordert meist eine aufwändige Koordination. Es steigt auch das Risiko für Zeitverzug, Budgetüberschreitung oder nicht funktionstüchtige Produkte.

Erfolgreiche Vorhaben verfügen über eine ambitionierte Vision, setzen aber realistische Zwischenziele und priorisieren die Bausteine, die rasch den größten Nutzen schaffen. Weitere Module können in späteren Phasen umgesetzt werden, falls die ersten Schritte erfolgreich waren.

3. Mit gutem Narrativ überzeugen

Damit ein Projekt erfolgreich umgesetzt wird, müssen sich die wichtigsten Akteure über das gemeinsame Ziel und den Weg dorthin einig sein.

Solche Projekte haben meist zahlreiche Stakeholder, die nicht Teil der umsetzungsbeauftragten Organisation sind. Projektverantwortliche können Veränderungen deshalb nicht über Weisungsbefugnisse durchsetzen. Gelingt es ihnen nicht, die Beteiligten durch überzeugende Kommunikation für die Mitarbeit und Unterstützung zu gewinnen, ist der Projekterfolg gefährdet.

Die Verantwortlichen sollten eine überzeugende Veränderungsgeschichte formulieren und an die Akteure kommunizieren. Darüber hinaus sind Multiplikator:innen in allen projektrelevanten Organisationen erforderlich.

4. Dem schleichenden Gremientod vorbeugen

In großen IT- oder Digitalprojekten sind permanent Entscheidungen gefragt – etwa zu Technologien, Funktionalitäten und Startterminen. Für eine schnelle und erfolgreiche Projektumsetzung ist es notwendig, solche Entscheidungen möglichst rasch zu treffen.

In der öffentlichen Verwaltung gibt es zahlreiche Koordinierungsgremien, die häufig auch Projekte steuern. Diese Gremien tagen meist in größeren Zeitabständen und in den Sitzungen konkurrieren zahlreiche Themen um Aufmerksamkeit. Häufig gilt auch das Einstimmigkeitsprinzip, das notwendige Entscheidungen erheblich verzögern kann.

Behördenübergreifende Vorhaben können ein Steuerungsgremium einrichten, das sich mit nur diesem Projekt befasst. Bestenfalls entscheidet dieses Gremium autonom über ein mehrjähriges Budget. Die Mitglieder sollten über die relevante fachliche und technische Kompetenz verfügen. An wichtigen Entscheidungen sollte zudem die minimale Anzahl von Stakeholdern beteiligt sein und bei Abstimmungen sollte es möglichst wenige Vetorechte geben.

5. Moderne Plattformarchitektur wagen

IT-Großprojekte sollten auf zukunftssichere, zeitgemäße Technologien und Plattformarchitekturen setzen, die eine schnelle Entwicklung und Skalierung erlauben.

Behördenübergreifende Projekte sind meist mit einer komplexen Landschaft von Bestandssystemen konfrontiert und viele Beteiligte wollen die gewohnten Funktionalitäten beibehalten. Daher streben die Verantwortlichen oft eine Interoperabilität mit bestehenden Lösungen an. Dies kann sinnvoll sein, aber es kann auch zu verpassten Chancen führen.

Projekte können auf neutrale Expertise setzen, um sicherzustellen, dass das technische Lösungsdesign zeitgemäß ist und nicht durch Partikularinteressen beeinflusst wurde. Sinnvoll ist hier insbesondere das Einbinden von Fachleuten aus der Privatwirtschaft, die den Stand der Technik einschätzen können (aber kein eigenes kommerzielles Interesse an dem Projekt haben).

6. Richtiges Team am richtigen Platz einsetzen

Das Leitungsteam für ein IT-Großprojekt benötigt eine breite Palette von Wissen und Fähigkeiten. Dazu gehören ein tiefes Verständnis der fachlichen Belange, Nutzerbedürfnisse und rechtlichen Rahmenbedingungen, Kenntnisse im klassischen und agilen Projektmanagement sowie hohe Technologiekompetenz. Nur wenige Personen erfüllen all diese Voraussetzungen gleichzeitig – interdisziplinär aufgestellte Teams sind deshalb unerlässlich.

Karrierewege in der öffentlichen Verwaltung begünstigen einen Fokus auf fachliche und juristische Fähigkeiten. So verfügen die Leitungsteams für große IT-Vorhaben oft nicht über alle notwendigen Kompetenzen. Hinzu kommt, dass Teams, die in klassischen Behördenstrukturen arbeiten, mehr Zeit mit aufwändigen Abstimmungen und der Kommunikation der Projekterfordernisse verbringen, als dies in einer agil arbeitenden Organisation notwendig wäre.

Die Federführung für wichtige Vorhaben kann an Innovationslabore übertragen werden. Für diese Einheiten lassen sich Teams mit allen erforderlichen Kompetenzen zusammenstellen. Innovationslabore bieten zudem die Möglichkeit, bestimmte Fähigkeiten gezielt zu stärken, ein Ökosystem aus geeigneten Partnern aufzubauen und Projekte abseits bremsender Strukturen agil durchzuführen.

7. „Rotes Telefon“ einrichten

Große IT- und Digitalprojekte benötigen von der politischen Leitungsebene oft kurzfristige Entscheidungen zu einer Sachfrage, die Freigabe von Ressourcen oder auch nur ein öffentliches Signal der Unterstützung für das Vorhaben.

Häufig sind die Projektverantwortlichen in komplexe Hierarchien und Gremien eingebunden – entsprechend lange kann es dauern, bis ein Anliegen die politische Ebene erreicht.

Große IT- und Digitalprojekte sollten deshalb politischeSponsor:innen haben. Sind diese schwer zu finden, ist das Projekt generell zu hinterfragen. Die Projektleitung sollte mit diesen Personen in direktem Kontakt stehen, ihr Vorgehen erläutern und mögliche Hindernisse frühzeitig benennen. Das „rote Telefon“ kann Entscheidungen mit einem politischen Charakter deutlich beschleunigen und die Politik erhält damit mehr Einblick in den Fortschritt und die Herausforderungen wichtiger Vorhaben. Gleichzeitig sollte sie die operative Steuerung so weit wie möglich an Projektverantwortliche oder entscheidungsfähige Gremien delegieren.

Axel Domeyer ist Partner bei McKinsey und berät vor allem öffentliche Organisationen zu Technologie- und Digitalisierungsthemen.

Marina Lessig ist Managerin bei Orphoz Public, einer hundertprozentigen Tochtergesellschaft von McKinsey, die Klienten in der öffentlichen Verwaltung bei Digitalisierungs-, Veränderungs- und Umsetzungsprogrammen berät.

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