Die digitale Transformation wird oft als etwas Technikgetriebenes verstanden, als neue Software, neue Tools, die dann unser Leben verändern. Irgendein Typ programmiert eine App in seiner Garage im Silicon Valley (oder heute eher in einem Büro in Shenzhen) – und plötzlich kommunizieren wir anders mit unseren Freunden, kaufen anders ein, oder suchen anders neue Lebenspartner. Doch diese Sicht greift zu kurz.
Veränderte Werte bringen neue Werkzeuge hervor, nicht umgekehrt
Die Geschichte der digitalen Transformation beginnt tatsächlich in der Nähe dieser legendären Garagen, in Haight-Ashbury, als dort im Summer of Love 10.000 Menschen in dieser verschlafenen Nachbarschaft in San Francisco zusammenkamen und alles anders machen wollten – anders lieben, anders leben, anders Musik machen, anders wirtschaften, anders aussehen, anders Politik gestalten. Ausgehend von den USA begann eine grundlegende Verschiebung zentraler gesellschaftlicher Werte: Akzeptanz für unterschiedliche Lebensentwürfe und eine gewisse Skepsis gegenüber staatlichem Handeln, verbunden mit einem Ethos des Experimentierens, mit einer Erfindungs- und Erneuerungskraft, die sich in der Kultur, in der Musik, im Zwischenmenschlichen und schließlich in der ganzen Gesellschaft Bahn brach. Die digitalen Veränderungen, die wir seit 30 Jahren erleben, zeigen es deutlich: Wir als Gesellschaft bauen uns die Werkzeuge, die wir benötigen.
Bedürfnis nach schnellem Zugang zu Wissen hat Wikipedia erschaffen
Die digitale Transformation nimmt gesellschaftliche Veränderungen auf und überführt sie in Technik. Die Erfolgsgeschichten von Google, Facebook oder Tiktok sind daher nicht primär das Ergebnis genialer Erfinder. Und dies gilt auch und gerade für die zentrale Ressource unserer Zeit: Das Wissen. Und ich spreche natürlich von Wikipedia.
Diese wurde vor 20 Jahren von Jimmy Wales erfunden. Sie ist aber zuvorderst die Antwort unserer Gesellschaft auf sich verändernde Anforderungen an Wissen: Es altert schneller und es wächst gleichzeitig rasant und, da es jeder benötigt, sollte es frei für alle sein. Gerade das Wissen wird somit nicht kontrolliert von einem Milliardenkonzern aus dem Silicon Valley oder aus China, sondern von digitalen Ehrenamtlern.
Wikidata: Wissen als strukturierte, maschinenlesbare Daten
Dies wird umso wichtiger, als Wissen, besonders in der Form von Daten, die Grundlage für eine der spannendsten Entwicklungen der kommenden Zeit sind: Künstliche Intelligenz (KI). Derzeit werden hier Claims abgesteckt, Fundamente gelegt und Regeln formuliert. Nimmt man die Bedeutung von KI ernst, so stehen uns weitreichende Veränderungen und bahnbrechende Innovationen ins Haus. Umso wichtiger ist es, dass wir als Gesellschaft gerade jetzt tätig werden und unsere kollektiven Interessen gegen die großen Internetkonzerne des Silicon Valley und Chinas behaupten.
Die Idee hinter Wikipedia, quasi das „wiki“ in Wikipedia, weist dabei den Weg. Und dieser Weg beginnt in Berlin. Denn hier wird mit Wikidata die Zukunft der Wiki-Idee realisiert. Erfunden von Markus Krötzsch und Denny Vrandečić ist Wikidata eine Datenbank strukturierter Daten, die nach dem Wikiprinzip funktioniert: Von jedermann bearbeitbar, die Inhalte frei nutzbar, getragen von einer ehrenamtlichen Community und unterstützt von einer gemeinnützigen Organisation. Zugleich aber, anders als Wikipedia, maschinenlesbar und für Computer verständlich und nutzbar.
Wikidata entwickelte sich rasant, es ist heute das mit Abstand am schnellsten wachsende Wikimedia-Projekt überhaupt. Mehr als 90 Millionen Datenbank-Einträge umfasst sie bereits, und jeden Tag nehmen Menschen rund 375.000 Bearbeitungen vor. Gerade einmal zwei Jahre nach dem Start des jüngsten Wiki-Projekts gab Google bekannt, die eigene Datenbank strukturierter Daten namens Freebase einzustellen und alle Daten Wikidata zur Verfügung zu stellen. Damit beendete Google den Versuch, eine eigene strukturierte Wissensdatenbank zu erstellen – und schrieb eine Millioneninvestition ab.
Ehrenamtliche Beteiligung schlägt jede Millioneninvestition
Warum scheiterte der Milliardenkonzern aus Mountain View, wo eine Handvoll Ehrenamtlicher aus Deutschland Erfolg hatten? Es gibt etwas, was man eben nicht kaufen kann, auch nicht mit den Milliarden eines globalen Konzerns: Community. Was Wikidata erfolgreich macht und sogar Google in die Knie zwingt ist nicht das rasante Wachstum an Inhalten, sondern die engagierte Community aus Freiwilligen, die sich dem Projekt widmet. Wie auch schon Wikipedia zeigte Wikidata, dass das wertvollste eines Netzprojektes Menschen sind, die sich engagieren.
Man könnte dies jetzt als einen netten Erfolg für die Wiki-Idee verbuchen. Doch die Bedeutung von Wikidata kann man nur in Verbindung mit der Künstlichen Intelligenz wirklich beurteilen. Wollen wir als Gesellschaft wirklich, dass diese zentrale Ressource der Zukunft – Daten – von privaten Firmen kontrolliert werden? Woher erhalten Siri, Alexa und Co. ihre Informationen, die sie an die Benutzer per Sprachausgabe weitergeben? Wer kontrolliert die Inhalte – ein Konzern, oder wir alle, als Gesellschaft? Wikidata gibt eine Antwort, aber es braucht unsere Hilfe, wie auch Wikipedia. Hilfe von der Politik.
Das Thema Offene Daten muss endlich auf die politische Agenda gesetzt werden. Eine Industrienation wie Deutschland, ohne nennenswerte Rohstoffe, hat die Möglichkeit, ganz vorne mit dabei zu sein. Nicht indem sich die Politik in die Entwicklung von Wikidata einmischt – dass macht die Community bereits selbst sehr gut, und die Finanzierung ist über Spenden ebenfalls gesichert. Sondern indem sie einen modernen rechtlichen Rahmen schafft, der Offene Daten fördert, etwa im Urheberrecht. Und indem die Politik endlich selbst vorangeht und alle Daten, die mit Steuergeldern entstanden sind, frei zur Verfügung stellt.
Pavel Richter ist Chief Digital Strategist beim Bundesverband Deutscher Stiftungen. Er war zwischen 2009 und 2014 als Geschäftsführer und Vorstand von Wikimedia Deutschland tätig. Sein Buch „Die Wikipedia-Story: Biografie eines Weltwunders“ ist Ende 2020 im Campus Verlag erschienen.