Standpunkte Warum Deutschland die digitale Arbeitszeiterfassung braucht

Seit dem Gesetzentwurf 2023 hat sich beim Thema Arbeitszeiterfassung wenig bewegt. Dabei könnte die digitale Zeiterfassung viel Papierkram und ineffiziente Verwaltungsvorgänge ersparen, schreibt Frederik Neuhaus von Clockin. Die neue Bundesregierung sollte den Entwurf deswegen möglichst schnell aus der Schublade holen.
Lernen Sie den Tagesspiegel Background kennen
Sie lesen einen kostenfreien Artikel vom Tagesspiegel Background. Testen Sie jetzt unser werktägliches Entscheider-Briefing und erhalten Sie exklusive und aktuelle Hintergrundinformationen für 30 Tage kostenfrei.
Jetzt kostenfrei testenWir sind mitten in einer Disruption der Arbeitswelt. Niemand kann bestreiten, dass sich unsere Arbeitskultur in den vergangenen Jahren massiv gewandelt hat. Homeoffice, mobile work, Flexoffice, 4-Tage-Woche, Vertrauensarbeitszeit, hybrides Arbeiten oder Telearbeit sind Ausdruck einer neuen Flexibilität, einer Disruption des klassischen 9-to-5-Jobs. Gleichzeitig kommt diese Art der Flexibilisierung für Millionen Beschäftigte ohnehin nicht infrage. Das betrifft sogenannte „deskless workers“, mobile Beschäftigte ohne festen Schreibtisch oder Büroanbindung. Dazu zählen Mitarbeitende im Handwerk, medizinisches Fachpersonal oder Reinigungskräfte. Hier sperren sich also nicht die Arbeitgebenden, sondern die Art der Tätigkeit bringt seine eigene Disruption mit: durch Schichtdienst, Fahrzeiten oder Projektarbeiten.
Gesetzgeber lässt auf sich warten
Und obwohl wir schon längst weg vom althergebrachten 9-to-5-Job sind, bleibt eines bislang auf der Strecke – die Gesetzgebung:
- Bereits im Jahr 2019 urteilt der Europäische Gerichtshof (EuGH), dass Arbeitgebende die volle Arbeitszeit ihrer Angestellten systematisch erfassen müssen.
- Drei Jahre später stellt das Bundesarbeitsgericht (BAG) fest, dass die gesamte Arbeitszeit der Arbeitnehmenden aufgezeichnet werden muss. Arbeitgebende müssten außerdem ein System einführen, mit dem die geleistete Arbeitszeit erfasst werden kann.
- Und im Jahr 2023 legt das Bundesarbeitsministerium (BMAS) einen ersten Entwurf für ein Gesetz zur Arbeitszeiterfassung vor. Der Entwurf beinhaltet eine elektronische Zeiterfassung.
Deutschland: ein unterdigitalisiertes Land
Passiert ist seither nichts. Weder steht ein Zeitplan fest, noch hat das Ende der Ampel-Koalition zu einer schnelleren Umsetzung beigetragen. Dabei besteht aus zwei Gründen dringend Handlungsbedarf, den gesetzlichen Rahmen endlich ins 21. Jahrhundert zu holen. Erstens: Deutschland ist stark unterdigitalisiert. Selbst in großen Konzernen wird bei banalen Arbeitsprozessen, wie der Arbeitszeiterfassung, unnötig viel Zeit mit Papierkram oder ineffizienten Verwaltungsvorgängen verplempert.
Eine repräsentative Umfrage des Digitalverbands Bitkom hatte ergeben, dass rund 20 Prozent der Unternehmen, die Arbeitszeiten erfassen, auf Excel-Tabellen vertrauen. Etwa 16 Prozent gaben sogar an, noch handschriftliche Stundenzettel zu nutzen. Excel-Tabellen und händisch geschriebene Stundenzettel bedeuten nichts anderes als: Viele Unternehmen nutzen die ineffizientesten und fehleranfälligsten Möglichkeiten, Arbeitszeiten zu erfassen. Flüchtigkeitsfehler beim händischen Übertragen von Daten, unleserliches Gekrakel, versehentliches Verschieben von Zeilen, falsche Eingaben, mögliche Datei- und Zettelverluste, keine automatische Fehlererkennung, Probleme beim Berechnen von Bezügen und Zuschlägen. Die Liste des bürokratischen Grauens ließe sich endlos fortführen.
Digitale Zeiterfassungstools als Türöffner zur Digitalisierung
Gerade die Branchen mit wechselnden Arbeitsorten und hochvolatilen Arbeitszeiten würden hier von einem digitalen Zeiterfassungstool profitieren. Diese Tools bieten nicht nur eine einfache und effiziente Lösung zur Arbeitszeiterfassung. Sie sind für knapp drei Millionen kleine und mittelständische Firmen oft der Türöffner zur Digitalisierung. Das liegt auch an den Synergieeffekten, die digitale Tools in diesem Bereich mitbringen. Neben der Arbeitszeiterfassung können der Projektstatus, der Baufortschritt und andere Fortschritte dokumentiert werden.
Dazu kommt die Einsatzplanung, das Organisieren der An- und Abwesenheiten und Projektzeiten, die direkt in die Rechnungsstellung übertragen werden können. Und wenn am Ende des Monats die Zeitwirtschaftsdaten automatisiert sind; wenn Lohnbuchhaltungsdaten automatisch, fehlerfrei und vollständig digitalisiert fließen; wenn Personalakten und Arbeitszeiten in einem System verwaltet werden: Dann ist viel Arbeitszeit gewonnen.
Denn klar ist: Wer darüber diskutiert, wie vorhandene Regelungen für Unternehmen abgeschafft werden können, argumentiert am Ziel vorbei. Die Arbeitszeiterfassung wird bleiben. Und keine Firma in Deutschland arbeitet digitaler und effizienter, nur weil eine Erfassungspflicht wegfällt. Das Ziel muss doch sein, dass Unternehmen mit gesetzlichen Vorgaben möglichst effizient umgehen und den Schritt in die Jetzt-Zeit schaffen. Die Politik sollte also gleich auf die digitale Lösung setzen, um Unternehmen einen gewichtigen Ruck in Richtung Digitalisierung zu geben.
Digitale Zeiterfassung gegen Mindestlohnbetrug
Der zweite Grund für einen schnellen Handlungsbedarf bei der digitalen Arbeitszeiterfassung: der Schutz von Arbeitnehmenden. Eine kontinuierliche und ausführliche Dokumentation der geleisteten Arbeit hilft bei Streitigkeiten um geleistete Überstunden. Gleichzeitig ist die Erfassung der Arbeitszeit ein unverzichtbares Instrument im Kampf gegen den Mindestlohnbetrug.
Die mangelhafte Dokumentation der Arbeitszeit ist die geläufigste Methode, die Bezahlung nach Mindestlohn zu umgehen. Wenn Unternehmen zu einer digitalen Erfassung verpflichtet werden, ist damit ein erster Schritt zur manipulationssicheren Erfassung getan. Gleichzeitig ermöglicht die Erfassung der Arbeit über digitale Tools Transparenz für Arbeitgebende und Arbeitnehmende. Arbeitszeiten können in Echtzeit im Blick behalten werden. Projekt- oder Pausenzeiten, Überstunden oder Fahrzeiten werden so transparent dokumentiert, dass alle Beteiligten einen Überblick über ihre geleisteten Stunden haben. Durch die automatische Erstellung von Stundenzetteln ist eine nachträgliche Manipulation und Umgehung des Mindestlohns weitaus schwieriger. Auf diesem Weg kann auch die aktuell diskutierte Umstellung auf eine Wochenarbeitszeit einfach und pragmatisch umgesetzt werden.
Alles in allem tut die künftige Bundesregierung gut daran, den Gesetzentwurf wieder aus den Schubläden rauszuholen. Eine Digitalisierung der Arbeitszeiterfassung ist überfällig. Sie schafft mehr Effizienz in Unternehmen und verringert den Verwaltungsaufwand deutlich. Gerade die unterdigitalisierten Bereiche könnten hier enorm profitieren. Gleichzeitig gilt es Millionen Menschen, vor Mindestlohnverstößen zu schützen. Der Weg zur Baustelle oder zur Kundschaft, Wartezeiten oder geleistete Mehrstunden sind kein Freizeitvergnügen. Eine digitale Zeiterfassung schafft eine transparente und manipulationssichere Dokumentation der geleisteten Arbeitszeit. Und seien wir mal ehrlich: Das Letzte, was Deutschland gebrauchen könnte, ist weniger Digitalisierung.
Frederik Neuhaus ist CEO und Mitgründer von Clockin. Das Start-up bietet eine App zur digitalen Zeiterfassung an.
Lernen Sie den Tagesspiegel Background kennen
Sie lesen einen kostenfreien Artikel vom Tagesspiegel Background. Testen Sie jetzt unser werktägliches Entscheider-Briefing und erhalten Sie exklusive und aktuelle Hintergrundinformationen für 30 Tage kostenfrei.
Jetzt kostenfrei testen