Deutschland steht an einem Wendepunkt. Die einstige Wirtschaftslokomotive des Kontinents kämpft mit schwächelnden Industrien und einer unsicheren Zukunft. Aus meiner finnischen Perspektive wirkt es manchmal, als stünde das Land kurz vor dem Abgrund. Aber ich weiß auch, dass es eine deutsche Tradition ist, überall Krisen zu erkennen – und noch mehr, über diese zu klagen.
Ich selbst glaube zwar nicht an den Untergang Deutschlands – anders als manche Kommentatoren in der deutschen Presse. Aber einige Sorgen sind durchaus berechtigt. Genau hier liegt auch eine riesige Chance: Deutschland kann Europa in eine neue wirtschaftliche Ära führen – indem es auf Kreislaufwirtschaft setzt. Denn Elektroschrott ist kein Müll – er ist eine ungenutzte Ressource. Ein Wirtschaftszweig, der Nachhaltigkeit mit Innovation verbindet und enorme Wachstumschancen bietet.
Der verborgene Schatz im Elektroschrott
Bevor Sie jetzt die Augen verdrehen, weil schon wieder ein Finne über Nachhaltigkeit spricht, lassen Sie mich eines sagen: Wir Finnen kennen das Gefühl, überall Probleme zu sehen – das verbindet uns mit den Deutschen. Aber wir bewundern, wie Deutschland aus dieser skeptischen Grundhaltung immer wieder echte Neuerungen schafft.
Die nächste Bundesregierung hat die Chance, genau das zu tun – vorhandene Ressourcen zu nutzen und daraus etwas Großes zu machen. So wie das Auto einst aus einer simplen Kutsche zu einer Weltindustrie wurde, könnte Deutschland Elektroschrott zum Motor einer florierenden Kreislaufwirtschaft machen.
Und das Potenzial ist riesig: Jedes Jahr entstehen in Europa über fünf Millionen Tonnen Elektroschrott. Smartphones machen einen großen Teil davon aus. Obwohl sie wertvolle Materialien enthalten, landen sie viel zu oft auf dem Müll. Die Herstellung eines einzigen Smartphones verursacht 80 Kilogramm CO₂-Emissionen, weil die Rohstoffe meist außerhalb Europas abgebaut und verarbeitet werden. Anstatt diese Geräte einfach auszumustern und immer neue zu importieren, könnten wir ihnen ein zweites Leben geben, wenn wir die richtigen Weichen stellen.
Was die nächste Bundesregierung tun muss
Die EU hat in den vergangenen Jahren einige wichtige Schritte in Richtung Kreislaufwirtschaft gemacht – von der Ökodesign-Verordnung bis zur Richtlinie zum Recht auf Reparatur. Deutschlands Ampelregierung hat mit ihrer Kreislaufwirtschaftsstrategie erste Impulse gesetzt. Jetzt muss die nächste Bundesregierung konkret werden.
Erstens muss das Design von Produkten endlich auf Wiederverwertung ausgerichtet werden. In der vergangenen Legislaturperiode konnte sich die EU nicht auf ein Verbot von reparaturverhindernden Designs durch große Hersteller (OEMs) einigen. Das heißt: Konzerne dürfen weiter Ersatzteile künstlich verknappen und unabhängige Werkstätten ausbremsen. Das macht Refurbishing teurer – oder verhindert es ganz.
Zweitens muss Reparatur Vorrang vor Recycling haben. Die Realität ist: Beim Recycling wird nur ein Bruchteil der Rohstoffe zurückgewonnen, und oft entsteht dabei auch noch gefährlicher Abfall. Wiederverwendung dagegen hält das gesamte Gerät oder große Teile davon im Kreislauf. Die Politik darf hier nicht länger so tun, als seien beide Ansätze gleichwertig.
Drittens muss Kreislaufwirtschaft wirtschaftlich attraktiv sein. Wir begrüßen, dass die neue EU-Kommission das Potenzial von Kreislaufwirtschaft für Europas Wettbewerbsfähigkeit stärken will. Jetzt gilt es, das Recht auf Reparatur wirklich durchzusetzen – mit klaren Vorgaben für Hersteller und besseren Bedingungen für Unternehmen, die auf Refurbishment setzen.
Deutschlands Chance, Vorreiter zu werden
Deutschland war schon oft das erste Land, das große Veränderungen angestoßen hat – von der Sozialversicherung bis zur Energiewende. Warum nicht auch beim Thema Kreislaufwirtschaft? Die nächste Regierung hat die Chance, eine nationale Strategie zu entwickeln, die Deutschland nicht nur nachhaltiger macht, sondern auch wirtschaftlich stärkt.
Als Finne weiß ich, was es heißt, aus einem kleinen Land heraus große Innovationen voranzutreiben. Aber Deutschland hat etwas, das Finnland nicht hat: seine Größe, seine industrielle Power und ja – seine Liebe zur Ordnung. Damit kann es zum Vorbild für ganz Europa werden.
Mein Appell an die nächste Regierung
Deshalb meine Bitte an die kommende Bundesregierung: Lassen Sie uns diese ungenutzten Smartphones zum Herzstück einer grünen Wirtschaft machen. Es geht nicht nur um Klimaschutz. Es geht darum, wie wir Ressourcen nutzen, Innovation vorantreiben und eine Wirtschaft aufbauen, die langfristig funktioniert. Packen wir es gemeinsam an.
Jori Ahvonen ist CTO von Swappie, einem europäischen Refurbisher für iPhones. Vor Swappie leitete er Engineering- und Technikteams, zum Beispiel bei Zalando.