„Gewaltig“ ist vielleicht das Wort, das Grönland am besten beschreibt. Ein gewaltiger Eisschild bedeckt fast 80 Prozent der größten Arktisinsel. Hautnah habe ich hier unendliche Wildnis und Weite erlebt.
Als Europaabgeordnete begab ich mich vergangene Woche auf die Reise in die Arktis-Region, nach Grönland. Als Vertreterin des EU-Parlaments nahm ich dort an der Konferenz der arktischen Parlamentarier teil. Auch wenn die Arktis uns in Europa weit weg vorkommt, ist Grönland – sechsmal größer als Deutschland – Schauplatz für Weltpolitik: zwischen Klimawandel und geopolitischen sowie wirtschaftlichen Interessen.
Die Einwohner:innen Grönlands haben über Jahrhunderte mit dem Eis zu leben gelernt: Das wichtigste Verkehrsmittel ist das Schiff über die See und das „Schneeschiff” auf dem Land. Auf meiner Schifffahrt von der Hauptstadt Nuuk bis zur nächsten Siedlung – circa 100 Kilometer in einen Fjord hinein – fuhren wir unglaubliche 28 Knoten pro Stunde (mehr als 50 Kilometer) über kristallklares tiefes Wasser. Alles schien immens: die schroffen Berge, die Tiefen des Meeres, die weiten Wege zwischen dem seltenen und fast schon unsichtbaren Menschenleben inmitten von überwältigender Natur. Vieles wird sich hier bald verändern.
Klimawandel, Eisschmelze und Black Carbon
Weltweit erwärmt sich das Klima und der Meeresspiegel steigt. In der Arktis geschieht das fast viermal schneller. Einem Bericht des Weltklimarats IPCC zufolge gehört der grönländische Eisschild zu den ersten voraussehbaren Kipppunkten beim Klimawandel. Dieser könnte hier schon in den nächsten Jahren erreicht werden. Was darauf folgt, ist nur zu mutmaßen. Beschleunigt wird dieser Effekt unter anderem durch schwarzen Kohlenstoff (kohlenstoffhaltige Partikel) in der Arktis. Durch ihn wird das Sonnenlicht absorbiert, was wiederum die Eisschmelze befeuert.
Die Eisschmelze stellt die arktischen Ökosysteme vor die Überlebensfrage. Zahlreiche Fisch-, Tier- und Pflanzenarten müssen sich neue Ernährungsgrundlagen und Lebensräume suchen. So wurde beobachtet, wie ein Polarbär ein Rentier jagte, da er inmitten des schmelzenden Eis auf zu wenig Robben stieß.
Vom Fischerei-Dilemma und der modernen Welt
Fischerei und Jagd stellten über Jahrhunderte die Ernährungsgrundlage für die Bevölkerung dar und sind es heute noch. Rund 90 Prozent der Exporte Grönlands basieren auf Fischprodukten. Damit befindet Grönland sich in einem Dilemma: Einerseits stellt die Fischerei eine wichtige Einnahmequelle dar, andererseits ist die fast schon zur Regel gewordene „Ausnahmeregel für die Überfischung“ langfristig nicht nachhaltig. Die Einwohner:innen Grönlands – kulturell sehr naturverbunden – suchen nach einem Wirtschaftsmodell, mit dem sie zukünftig Einkommen generieren und ihren Weg zur Unabhängigkeit vom Königreich Dänemark finanzieren können.
Nicht überraschend ist auch Grönland in einer digitalen und modernen Welt angekommen. Dieser Sprung hat seine teils weit voneinander entfernten Einwohner:innen nicht nur vernetzt, sie machen sich die Digitalisierung auch zunutze: um den Ökotourismus und die eigene kunstvolle Filmindustrie – die die bildhaften Traditionen der Inuit illustriert – zu fördern oder auch die freiwerdenden Rohstoffe zu erschließen, letzteres nicht ohne Risiken.
Einblicke in die Geopolitik der Arktis
Mit den klimatischen Veränderungen einhergehend spitzt sich der Run um geopolitischen Einfluss in der Arktis – vor allem zwischen den USA, Russland und China – immer weiter zu. Es geht einerseits um die Ressourcen der Arktisregion und eine neue Handelsroute: die Nordwestpassage.
Grönland ist reich an Rohstoffen wie Gas, Erdöl, Eisen und Seltenen Erden. Bisher sind die Vorkommen kaum erschlossen. Nicht nur das Eis ist (noch) ein Hindernis, sondern auch die Bevölkerung sieht die Erschließung teils kritisch. Das spiegelte sich auch bei der jüngsten Parlamentswahl in Grönland wider. Die Umweltschutzpartei Inuit Ataqatigiit (Gemeinschaft der Inuit), die sich gegen ein Minenprojekt im Kvanefjeld (vom chinesischen Unternehmen Shenghe Resources mitentwickelt) einsetzt, hatte die Wahl für sich entschieden. Investor:innen für Minen- und Bergbau stellen Grönlands Einwohner:innen ein neues Businessmodell vor – durchaus verlockend, dennoch nicht ohne Risiken.
Eine zunehmend eisfreie Nordwestpassage bietet neue Handelsmöglichkeiten und wird aller Voraussicht nach die Karten der Geopolitik neu mischen. Der kürzere Seeweg zwischen China und Europa war eisbedingt bisher kaum schiffbar. Durch die Klimaerwärmung ist die Arktisroute schon heute an immer mehr Tagen im Jahr eisfrei.
Nicht nur die kommerzielle Schifffahrt schaut daher sehr genau auf die Entwicklung am Polarkreis, sondern auch allen voran Russland und China. Ob die im arktischen Ozean bisher geltenden Verträge auch auf der Nordwestpassage gelten werden, ist bisher nicht geklärt.
Zurück zur Natur und zurück zur Unabhängigkeit
Der Arktische Rat würde ein Diskussionsforum bieten, um solche rechtlichen Grundlagen zu klären. Ob dazu allerdings eine Einigung erzielt werden kann, ist offen. Während die EU seit 2008 auf einen offiziellen Beobachterstatus im Arktischen Rat wartet hat China diesen 2013 erhalten.
Chinas Interesse an der Arktis ist nicht zu übersehen. Russland mit der größten Küstenlinie von über 24.000 Kilometern am Arktischen Ozean beansprucht heute schon Teile der Arktis und der Nordwestpassage für sich. Während die USA erst kürzlich ankündigte, einen Arktis-Botschafter zu ernennen, muss die EU ihre Rolle in der Arktis noch genauer definieren. Es ist höchste Zeit dafür.
Wichtig ist, dass die EU dabei im Einklang mit den eigenen Werten – Recht auf Selbstbestimmtheit, Schutz der indigenen Bevölkerung, Naturschutz – handelt und die Interessen der lokalen Bevölkerung berücksichtigt. Dass die Menschen vor Ort ihre Dilemmata kennen, hat mir ein Gespräch mit Aaja Larsen Chemnitz verdeutlicht. Die grönländisch-dänische Politikerin stammt aus einer Inuit-Familie, hat in Kopenhagen studiert und ist heute im dänischen Parlament Vertreterin Grönlands. Sie reist quasi jede Woche zwischen Dänemark und Nuuk.
Im dänischen Parlament setzt sie sich sowohl für Umweltschutz als auch für den Ausbau des Flughafens in Nuuk ein. Sie verteidigt ihre Ursprungskultur und möchte den nachhaltigen Tourismus vorantreiben. Sie weiß aber auch, dass Investitionen in Infrastruktur die Bedingung für die Souveränität ihres immensen Landes ist (für Gesundheit, Bildung, Mobilität etc.). Ebenso ist ihr bewusst, dass auch der Bergbau – um Seltene Erden für die Elektromobilität zur Verfügung zu stellen – eine ernstzunehmende Option ist.
Welchen Weg Grönland zwischen Klimawandel, geopolitischen Interessen und den eigenen Bestrebungen nach Unabhängigkeit gehen wird, scheint extrem ungewiss. Vor Ort ist die Sehnsucht nach „back to nature and take back control” und zugleich ein klares Bewusstsein, dass Souveränität nur mit wirtschaftlicher Stärke einhergehen kann, regelrecht zu spüren. Es durchzieht alle Lebensbereiche. Dieses Dilemma ist in der Arktis zum Greifen nah. Bei uns ziemlich unbeachtet, ist es höchst relevant für das Überleben der Menschheit!