Die Klima- und die Coronakrise verlaufen auf völlig unterschiedlichen Zeitskalen. Dennoch gibt es eine Reihe von Parallelen zwischen beiden. Eine davon ist, dass bei beiden Krisen frühzeitige Anstrengungen entscheidend sind, um spätere Schäden – wirtschaftliche wie menschliche – drastisch zu reduzieren. Daher ist vorausschauendes Handeln der Politik gefragt.
Denn obwohl die Coronakrise – verglichen mit dem Klimawandel – quasi im Zeitraffer abläuft, gibt es auch hier eine Verzögerung zwischen den Anstrengungen, die Verbreitung des Virus einzudämmen, und den möglichen Erfolgen. Beim Klimawandel ist die zeitliche Verzögerung sehr viel ausgeprägter: Die Früchte frühzeitiger Anstrengungen zur Senkung der Emissionen werden vor allem zukünftigen Generationen zugutekommen. Dies erschwert es der Politik, dem Problem frühzeitig mit harten Maßnahmen zu begegnen.
Im Falle der Coronakrise sehe ich das entscheidende Politikversagen vor allem in der sehr frühen Phase der Epidemie, noch bevor diese zur Pandemie wurde. Harte, zeitlich begrenzte Maßnahmen um Anfang Februar 2020 herum hätten womöglich eine globale Ausbreitung des Virus, also die Pandemie, gänzlich verhindern können.
Dafür wären zeitnah nach dem Ausbruch der Epidemie in China massive Einschränkungen der Bewegungsfreiheit von Menschen zwischen Ländern, wo das Virus bereits grassierte, und solchen, wo dies nicht der Fall war, vonnöten gewesen, sowie drastische Maßnahmen in den betroffenen Regionen.
Corona-Einschleppung als Hyper-Externalität
Das Problem ist aber, dass derartige Maßnahmen der Bevölkerung zu der Zeit schwer zu vermitteln gewesen wären. Denn zu einem Zeitpunkt, wo die meisten Länder der Erde noch gar nicht von Corona betroffen waren, hätten diese vermutlich drakonisch gewirkt. Aus ökonomischer Sicht wären diese aber durchaus zu rechtfertigen gewesen. Das Einschleppen eines gefährlichen Virus in ein noch nicht betroffenes Land ist eine Hyper-Externalität.
In der Klimaökonomik bezeichnet man beispielsweise schädliche CO2-Emissionen als eine „Externalität“, da diese Schäden bei anderen Akteuren erzeugen, die die Emissionen nicht verursacht haben. Wenn man bei Corona die ganze Kette an potenziellen Ansteckungen betrachtet, die eine einzelne, infizierte Person verursachen kann, wird deutlich, dass es sich hier um eine extreme Form von Externalität handelt. Dadurch wären frühzeitige Reisebeschränkungen und Quarantänemaßnahmen durchaus zu rechtfertigen gewesen.
Am Beispiel Neuseelands lässt sich aufzeigen, wie eine solche Strategie in der Praxis ausgesehen hätte, und wie effektiv sie hätte sein können in der Eindämmung der Epidemie, insbesondere dann, wenn viele Länder der Erde hierbei koordiniert gehandelt hätten. Neuseeland ist bis auf einige wenige schnell isolierte Einbringungen coronafrei, die Bewohner können bis auf Reisebeschränkungen normal leben.
Unsicherheit charakterisieren Pandemie und Klimakrise
Eine weitere Parallele zwischen dem Klimaproblem und der Coronakrise besteht in der Unsicherheit, die mit dem jeweiligen Problem verbunden ist. Ob die Pandemie mit einer solchen Strategie wirklich hätte verhindert werden können, ist natürlich ungewiss. Auch beim Klimawandel sind die Höhe der zukünftigen Schäden und die Wahrscheinlichkeit eines völligen Kontrollverlustes durch kaskadierende Effekte („Kipppunkte“) nicht genau bekannt. Dies erschwert es der Politik zusätzlich, frühzeitig harte Maßnahmen zu ergreifen.
Die tiefere Ursache für das Versagen der Politik im Umgang mit solchen Problemen sehe ich jedoch vor allem in Fehlanreizen für die Politik, sich dem jeweiligen Problem adäquat anzunehmen, insbesondere durch frühzeitige, einschneidende Maßnahmen. Die Akzeptanz wäre, wie oben erwähnt, vermutlich sehr gering gewesen. Die Pandemie musste zunächst ihren Lauf nehmen, bevor entschiedenes Handeln in einer Demokratie eine Mehrheit gewinnen konnte.
Anschließend konnten sich Politiker sogar als Krisenmanager profilieren, während drastische Maßnahmen noch vor dem Auftreten erster Fälle in noch nicht betroffenen Staaten zu der Zeit drakonisch und unverhältnismäßig gewirkt hätten. Ähnliches gilt auch für die Klimakrise. Auch hier, so scheint es, müssen die Schäden erst sichtbar gemacht werden, bevor entschiedenes Handeln in einer Demokratie möglich wird.
Demokratien müssen komplexe Probleme bewältigen können
Entscheidend ist deshalb, dass demokratische Systeme weiterentwickelt
werden, damit sie komplexe Probleme wie Klimawandel, aber auch
Artensterben, übermäßigen Pestizideinsatz, die Übernutzung von Antibiotika und
ähnliche, sich schleichend entwickelnde Probleme frühzeitig mit entschiedenen
Maßnahmen adressieren können, noch bevor
diese akut werden. Zu einem solchen Zeitpunkt ist es nötig, auf den Rat von Expertinnen und Experten zu
hören, um das Problem antizipieren zu können, noch bevor es für die breite Bevölkerung
sichtbar wird.
Vor allem beim Klimaproblem wird deutlich, dass auch Demokratien über mehrere Jahrzehnte hinweg weitgehend darin versagt haben, einschneidende Maßnahmen einzuleiten, obwohl diese spätestens seit den 1990er Jahren von Wissenschaftlern gefordert wurden, seit vielen Jahren auch in einer überwältigenden Mehrheit. Somit handelt es sich nicht um ein zufälliges, sondern um ein systematisches Versagen der Politik (über viele Länder und mehrere Jahrzehnte hinweg).
Daher schlage ich vor, auch über systemische Veränderungen an unseren heutigen Demokratiesystemen nachzudenken. Eine gewisse Trägheit im demokratischen System ist zwar durchaus gewollt, um das Systembeispielsweise vor autokratischen Tendenzen zu schützen. Diese Immunität der Demokratie gilt es zu stärken. Gleichzeitig sollte es aber möglich sein, die Demokratie weiterzuentwickeln, und unter anderem durch neuartige Mitbestimmungsmöglichkeiten sowie durch einflussreiche Expertengremien zu stärken.
Bürgerversammlungen und Expertengremien als entwickelbare Optionen
Ich denke dabei unter anderem an Bürgerversammlungen. Darin versammeln sich circa 100 bis 200 Personen, die zufällig aus der Gesamtbevölkerung ausgelost wurden. Diese befassen sich intensiv mit einem Problemfeld, und versuchen, im kritischen Diskurs eine mehrheitsfähige Strategie zur Problembewältigung zu entwickeln. Darüber hinaus schlage ich aber auch Expertengremien vor, die unabhängig von parteipolitischen Einflüssen Mindeststandards für politische Maßnahmen erarbeiten, um einem Problem wie beispielsweise dem Klimawandel in wissenschaftlich fundierter Weise zu begegnen.
Hier müsste man sich von bestehenden Vorstellungen lösen. Für manche Probleme wird es erforderlich sein, die Demokratie grundlegend weiterzuentwickeln, um wissenschaftlichen Notwendigkeiten wie zum Beispiel Klima- oder Artenschutz vor parteipolitischen, populistischen oder ideologischen Beeinflussungen den Vorrang geben zu können.
Derartige Probleme sollten aus der gewöhnlichen
Tagespolitik herausgelöst werden
mithilfe eines geregelten Verfahrens, und in eigenständigen, übergeordneten
Gremien behandelt werden unter der Mitwirkung von Experten. Derartige Verfahren
und Expertengremien – unter der Wahrung demokratischer Standards – wären noch
zu entwickeln.