Auf der Klimakonferenz in Glasgow (COP 26) wurde bestätigt, dass die 1,5-Grad-Erderwärmungsgrenze nicht überschritten werden sollte. Das global verbliebene CO2-Budget, mit dem dieses Ziel noch erreicht werden kann, ist jedoch mittlerweile auf unter 400 Gigatonnen gesunken. Damit ist es so knapp, dass jeder weitere Verbrauch fossiler Energie genau abgewogen werden muss und die erneuerbaren Energien auf globaler Ebene viel schneller aufgebaut werden müssen als bisher.
Dies bedeutet ein Dilemma globalen Ausmaßes. Im Globalen Süden fehlt es auf verschiedenste Weise an Infrastruktur, etwa für sauberes Trinkwasser, Straßen, Krankenhäuser oder Schulen. Um diese Infrastruktur aufzubauen, braucht es nicht nur Geld, sondern auch Energie. Die nachholenden Energiebedarfe des Globalen Südens sind so groß, dass es zu einem Wettlauf zwischen dem Aufbau der erneuerbaren Energien und deren wachsendem Stromverbrauch kommen wird.
Nachholbedarf im Süden, Luxuskonsum im Norden
Gleichzeitig steigen die Energieverbräuche im Globalen Norden durch Luxus- und Bequemlichkeitskonsum. Zu nennen wären das Fahren mit zu großen und zu schweren Autos, ein zu hoher Fleischkonsum und zu viele Flugreisen. Auch Elektromobilität ist kein Allheilmittel: Der derzeitige Trend geht leider dahin, die neuen E-Autos ebenso groß zu bauen wie die letzte Generation der diesel- oder benzingetriebenen Autos. Ein SUV, das als Dieselversion rund 2 Tonnen wiegt, wird dann durch ein E-SUV ersetzt, das aufgrund der notwendigerweise großen Batterie sogar 2,5 Tonnen Gewicht aufweist. Stromverbräuche von weit über 20 Kilowattstunden pro 100 Kilometer sind so unvermeidbar – anstelle der anzustrebenden zehn bis zwölf kWh pro 100 km.
Jede zusätzliche Energienachfrage im Globalen Norden, die derzeit noch in wesentlichen Teilen fossil bedient wird, zögert es heraus, dass die Versorgung aus 100 Prozent erneuerbarer Energie erreicht wird, und vergeudet so das verbliebene CO2-Budget.
Die Zeit tickt – und das CO2-Budget schrumpft
Das Problem der notwendigen Energiewende auf globaler Ebene ist nicht, dass es nicht genügend Potenzial an erneuerbare Energien (inklusive der notwendigen Speichersysteme) gibt, um weiter steigende Verbräuche der industrialisierten Länder und der nachholenden Länder bedienen zu können. Das Problem ist der limitierte Zeitfaktor, in dem diese aufgebaut werden müssen.
Jedes Jahr, in dem weiter fossile Energien verbraucht werden, verursacht CO2-Emissionen, die mit dem verbliebenden 400-Gt-Budget beziehungsweise dem 1,5-Grad-Ziel nicht mehr in Einklang gebracht werden können.
Der Globale Norden muss seine Verbräuche zurückschrauben, um
dem Globalen Süden ein
größeres Stück vom verbleibenden CO2-Budget zu überlassen. Dieser hat
ein legitimes Anrecht
darauf, jene Infrastrukturen nachholend auszubauen, die unabdingbar für die
Umsetzung der 17 Nachhaltigkeitsziele der UN (SDGs) sind und die der
industrialisierte Globale Norden bereits – unter Verwendung gewaltiger Mengen
fossiler Energien – aufgebaut hat. Denn die Wohlstandsnutzen der
zusätzlichen Energieverbräuche des Globalen Südens sind weitaus größer als
weitere Verbräuche des Globalen Nordens.
100 Prozent erneuerbare Energien sind möglich
Meine aktuelle Studie, die vor Kurzem bei der Stiftung World Future Council erschien, zeigt sowohl für Deutschland als auch für die globale Ebene, dass eine Umstellung auf eine 100 Prozent erneuerbare und CO2-freie Energieversorgung bis spätestens 2040 grundsätzlich möglich ist.
Dafür müssen alle politisch gesetzten, regulatorischen Hindernisse unverzüglich beseitigt werden. Die Finanzierung der notwendigen Investitionen ist möglich, wenn die entsprechenden Rahmenbedingungen eine sichere Kalkulierbarkeit gewährleisten.
Das Problem der mangelnden Kalkulierbarkeit – und nicht ein oft vermuteter grundsätzlicher Mangel an „grünem“ Investitionskapital – ist auch der wesentliche Hinderungsgrund für den bisher kaum stattfindenden Aufbau erneuerbarer Energien im Globalen Süden. Unterstützende Maßnahmen durch Bürgschaften sowie gezielte rückzahlungsfreie Zuschüsse aus dem Globalen Norden könnten dieses Problem überwinden.
Die Erde ist ein endlicher Planet. Die Flächen und Rohstoffe, die zur globalen Energiewende und zur Umsetzung der 17 SDG im Globalen Süden notwendig sind, sind aber ausreichend vorhanden.
Sektoren dekarbonisieren, Ressourcen sinnvoll nutzen
Neben dem Aufbau einer CO2-freien Energieversorgung wird entscheidend sein, die globale Zementproduktion auf das absolut Notwendige zu begrenzen und die verbliebenen Mengen zu dekarbonisieren. Auch die globale Stahlproduktion muss zügig auf eine CO2-freie Herstellung umgestellt werden und die Methanemissionen des Energie- und Agrar-Sektors sind zurückzuführen.
Auf der COP26 in Glasgow wurde hierzu ein erster richtungsweisender Beschluss gefasst. Die Methan-Leck-Emissionen der Öl- und Erdgasförderung sowie die dazugehörigen Gas-Pipelines sollen besser überwacht und deutlich verringert werden. Die erforderlichen Investitionen würden sich für die Energieunternehmen oft sogar rechnen, da sie weniger Gasverluste erleiden würden. Mit relativ geringem Aufwand können hier wichtige Verbesserungen für den Klimaschutz erreicht werden.
Neue, energieintensive Technologien sollten nicht
mehr eingeführt werden, ohne dass vorher eine
ernsthafte, öffentliche Debatte geführt wurde, ob diese überhaupt benötigt
werden und der zusätzliche Energieverbrauch in einem sinnvollen Verhältnis zum
Nutzen steht. Hier könnte eine demokratisch legitimierte Kommission eine Energieverbrauchsfolgenabschätzung
durchführen, wenn dies vom Parlament oder einer bestimmten Anzahl von
Petitionen gefordert wird. Nicht alles, was technisch machbar ist, muss auch
umgesetzt werden.
Die Weltgemeinschaft muss es schaffen, das verbleibende CO2-Budget gerecht zu verteilen. Hierbei muss der Globale Norden sehr sparsam und effizient mit seinem Teil haushalten, um dem Globalen Südens ausreichend Spielraum für seine nachholende Entwicklung zu geben. Es liegt aber auch im Eigeninteresse des Nordens, den Süden massiv dabei zu unterstützen, die erneuerbaren Energien auszubauen.
Denn ein großer Teil der Gelder, mit denen der Norden den Süden unterstützt, fließt in Form von Aufträgen für das Equipment für den Aufbau der erneuerbaren Energien an ihn zurück. Noch viel bedeutender ist aber, dass alle gemeinsam profitieren, wenn die Klimakatastrophe abgewendet wird. Die desaströsen Folgen des Klimawandels spüren wir schon jetzt bei einer Erwärmung von 1,1 Grad.
Dr. Matthias Kroll ist Chief Economist des World Future Councils. Die gemeinnützige Stiftung wurde 2007 gegründet. Nach
eigenen Angaben will der in Hamburg ansässige WFC zukunftsgerechte Lösungen
entwickeln und deren Umsetzung weltweit fördern.