Der Koalitionsvertrag „Mehr Fortschritt wagen“ ist detailliert, umfangreich und setzt gerade im Energieumfeld viele Themen und Ziele. Dabei ist er an vielen Stellen erfreulich konkret, wenn es zum Beispiel um die klare Adressierung des Konflikts zwischen Umwelt- und Klimaschutz geht, und teilweise extrem ambitioniert, zum Beispiel bei den Zubaumengen für die Erneuerbaren Energien.
Umso spannender ist es dann aber, wenn der Koalitionsvertrag an einer Stelle schweigt, die für die Netzbetreiber, aber auch für die Energiewende generell von größter Bedeutung ist: der zukünftigen Ausgestaltung der Netzregulierung. Nach der EuGH-Entscheidung vom September muss die Rolle der Bundesnetzagentur komplett neu definiert werden. Wie und bis wann das geschehen soll – dazu finden sich im Koalitionsvertrag keine Aussagen. Die Netze BW schlägt hier eine institutionelle Neugestaltung vor: ein unabhängiges wissenschaftliches Expertengremium, um Rechtssicherheit und Rechtsschutz zu adressieren.
Der EuGH hatte der Europäischen Kommission in ihrer Sicht Recht gegeben, wonach der normative Ansatz der deutschen Energieregulierung nicht den Vorgaben des 3. Binnenmarktpakets entspricht. Konkret, dass die Bundesnetzagentur nicht unabhängig genug aufgestellt ist, da die Vorgaben aus dem EnWG und den damit einhergehenden Verordnungen wie StromNEV, GasNEV, ARegV, StromNZV, GasNZV usw. das Handeln der Behörde zu sehr einschränken. Für die deutsche Energieregulierung ist das eine „Stunde Null“: Die Energieregulierung muss weitgehend neu konzipiert und in neue Regelungen gegossen werden.
Netzbetreiber brauchen Rechtsschutz
In der Branche wird das Ganze naturgemäß mit großer Sorge gesehen, denn die Bundesnetzagentur bekommt damit einen noch größeren Einfluss auf die Wirtschaftlichkeit des Netzbetriebs. Es ist ja schön und gut, wenn im Koalitionsvertrag festgehalten wird, dass die Investitionsbedingungen im Netz im europäischen Vergleich attraktiv sein müssen. Wenn aber zeitgleich die Bundesnetzagentur den Eigenkapitalzinssatz auf das im europäischen Vergleich niedrigste Niveau festlegt, klingt diese vollmundige Ankündigung des Koalitionsvertrags etwas hohl.
Dabei zeigen gerade die letzten Gerichtsstreitigkeiten zur Festlegung des Eigenkapitalzinssatzes und zum generellen Produktivitätsfaktor (Xgen) plakativ, wie groß die Unabhängigkeit der Bundesnetzagentur ohnehin schon geworden ist. Der Bundesgerichtshof (BGH) hat hier das Regulierungsermessen der Bundesnetzagentur extrem ausgeweitet – soweit, dass die Grenzen dieses Ermessens kaum noch am Horizont zu erkennen sind.
In seiner Rede auf dem Düsseldorfer Energierechtstag im September 2021 hat der damalige Vorsitzende Richter am BGH Prof. Dr. Meier-Beck es auch für die wenigen anwesenden Nicht-Juristen unmissverständlich dargelegt: Das Gerichtsverfahren ist nicht die Fortsetzung der Konsultation. Der Gesetzgeber hat die Fachfragen an die Bundesnetzagentur delegiert – und dort liegen sie. Es kann wohl das Fazit gezogen werden, dass die Gerichte in Bezug auf die Bundesnetzagentur von einem Regulierungsermessen zu einem Regulierungsvertrauen übergegangen sind. Für die Netzbetreiber stellt sich damit schon im aktuellen Rechtsrahmen die Frage, wie und wo sie eigentlich Rechtsschutz in Bezug auf das Handeln der Bundesnetzagentur erhalten. Durch das EuGH-Urteil hat sich diese Situation noch verschärft.
Expertengremium könnte Gerichte entlasten
Allerdings liegt in der Entscheidung des EuGH auch eine Chance. Denn schon kurzes Nachdenken zeigt, dass diese Entscheidung im deutschen Rechtssystem nicht so einfach umzusetzen ist, schon gar nicht mit dem Ansatz, dass inhaltliche Befassungen nicht Teil von Gerichtsverfahren sein sollen. Behördliches Handeln wird weiter gerichtlich überprüfbar sein müssen, wenn man rechtsstaatlichen Grundsätzen folgen möchte.
Konkret werden die neuen Vorgaben des EuGH dafür aber keine Hilfe sein, denn die Überprüfung, ob die Bundesnetzagentur ihre selbstgesetzten Regelungen richtig anwendet, ergibt ja wenig Sinn. Die Gerichte werden also unausweichlich in eine härtere inhaltliche Auseinandersetzung gezwungen werden. Und die Erfahrungen der letzten Jahre zeigen: Ein wirklich guter Ort für eine wissenschaftlich-inhaltliche Auseinandersetzung über ökonomische Regulierungsfragen sind Gerichtssäle nicht.
Hier hat die Netze BW einen Vorschlag gemacht, der die Frage der angemessenen und institutionell eingeordneten Fachdiskussion über Regulierungsfragen adressiert. Wir halten die Einrichtung eines „wissenschaftlichen Expertengremiums“ für einen guten Weg nach vorne. Im alten (bisherigen) Regulierungsrahmen gedacht würde dieses Gremium die Rolle der Sachverständigen in den Gerichtsverfahren übernehmen. Allein schon dieser „Sachverständigen-Dauerauftrag“ würde zu konsistenteren inhaltlichen Debatten im Zeitverlauf und über unterschiedliche Regulierungsentscheidungen hinweg führen.
Nach vorne gedacht könnten Netzbetreiber oder andere Betroffene dieses Gremium auch anrufen, wenn sie sich von den neu gesetzten Regeln einer europäisch-unabhängigen Bundesnetzagentur unfair betroffen fühlen. Das Expertengremium könnte dann Stellungnahmen zu ökonomischer Plausibilität, methodischer Stringenz und zu einer Einordnung in den Stand der Wissenschaft (schon jetzt ein gesetztes, aber nicht wirklich gelebtes Kriterium in der ARegV) abgeben und so eine unabhängige und fundierte Basis für allfällige rechtliche Auseinandersetzungen geben.
Expertengremium benötigt Kompetenzen
Für die Relevanz eines solchen Gremiums ist aus unserer Sicht insbesondere dessen Reputation wichtig. Diese müsste auch institutionell gefestigt sein, so zum Beispiel durch Informationsrechte gegenüber der Bundesnetzagentur und den Netzbetreibern, oder das Recht, Anhörungen durchführen und eine verbindliche Einordnung der Ergebnisse für rechtliche Auseinandersetzungen vornehmen zu dürfen.
Dazu gehört auch eine eigene Ressourcenausstattung wie zum Beispiel eine Geschäftsstelle und ein wissenschaftlicher Mitarbeiterstab. In der Besetzung wäre auf wissenschaftliche Breite – Ökonomen, Ökonometriker und Statistiker sowie energiewirtschaftliche wie energietechnische Expertise – zu achten. Schafft es ein solches Expertengremium, auch eine sachlich-inhaltlich Reputation aufzubauen, wird es disziplinierend auf die regulatorischen Auseinandersetzungen wirken.
Mit Blick auf die Investitionsbedingungen in einer Branche ist die „Rechtssicherheit“ ein wichtiges Thema. Durch das überraschende EuGH-Urteil ist der Begriff für die Energiewirtschaft neu zu definieren. Dass der Koalitionsvertrag dazu schweigt, obwohl „attraktive Investitionsbedingungen“ als notwendig angesehen werden, zeigt wahrscheinlich auch den glücklichen Umstand eines Rechtssystems, in dem wir uns über Rechtssicherheit in der Regel keine Gedanken machen müssen. Ein unabhängiger Expertenrat für die Regulierung wäre ein Ansatz, hier für die Zukunft wieder (blindes) Regulierungsvertrauen in (kontrolliertes) Regulierungsermessen zu überführen.