Im ersten Quartal 2024 erreichte der Netzentgeltanteil laut der Strompreisanalyse des BDEW einen historischen Höchststand von 27,2 Prozent des Endkundenpreises. Für typische Haushaltskunden erhöhte sich das Netzentgelt um 62 Prozent, von 5,75 Cent je Kilowattstunde im Jahr 2011 auf 9,35 ct/kWh im Jahr 2023. Für Gewerbekunden ergibt sich mit zirka 52 Prozent ein ähnliches Bild. Den relativ größten Anstieg verzeichnen Industriekunden, deren Netzentgelt sich von 1,46 auf 3,30 ct/kWh mehr als verdoppelt hat.
Diese Kundengruppe war insbesondere von den kontinuierlichen Erhöhungen des Übertragungsnetzentgelts betroffen, wobei es deutliche regionale Unterschiede gab. Doch die Politik hat mit dem Netzentgeltmodernisierungsgesetz von 2017 und der Verordnung zur schrittweisen Einführung bundeseinheitlicher Übertragungsnetzentgelte Handlungsfähigkeit bewiesen und eine gleichmäßigere und gerechtere Verteilung der steigenden Kosten erwirkt.
In unserem glücklicherweise fortgeschrittenen Stadium der Energiewende im Stromsektor tritt ein neues Problem auf: Aufgrund der stark regional unterschiedlichen Ausbaugeschwindigkeit der Erneuerbaren Energien und ihrem Netzanschluss auf der Mittelspannungsebene (Windenergieparks und große PV-Parks) sowie der Verteilnetz-Niederspannungsebene (insbesondere PV) kommt es zu immer größeren Unterschieden bei den Verteilnetzentgelten für Haushaltskunden. Im Klartext: In Regionen, die bei der Energiewende vorangehen, müssen die Verbraucher für diesen vorbildlichen Einsatz blechen. Das betrifft besonders Nordostdeutschland, wo besonders wenige Verbraucher besonders hohe Netzanschlusskosten tragen.
Handlungsbedarf erkannt, Gefahr nicht gebannt
Dieses Ungleichgewicht wurde von der Bundesregierung erkannt und die Bundesnetzagentur hat einen Reformprozess gestartet: Das Verfahren zur Festlegung zur sachgerechten Verteilung von Mehrkosten aus der Integration von Anlagen zur Erzeugung von Strom aus Erneuerbaren Energien. Dabei wird gemäß des Eckpunktepapiers von Dezember 2023 anhand einer Formel (Summe der installierteb EE-Leistung geteilt durch zeitgleiche Jahreshöchstlast) eine Erneuerbare-Energien-Kennzahl (EKZ) ermittelt. Mittels dieser EKZ wird versucht, das Verhältnis von maximaler zeitgleicher Einspeiselast aus Erneuerbaren Energien zu entnahmeseitiger Jahreshöchstlast einer Netzebene abzubilden und basierend darauf einen wälzbaren Mehrkostenanteil festzulegen.
In der ersten Konsultationsrunde im Januar haben zahlreiche Verbände das Eckpunktepapier qualitativ kritisiert. Der Tenor: Die Intention der Bundesnetzagentur die Netzentgeltsystematik zu reformieren ist goldrichtig. Aber der Umsetzungsvorschlag birgt zahlreiche Tücken: fehlende Transparenz und methodische Mängel; Fehlanreize für Verteilnetzbetreiber zu „Wälzungsoptimierung“; eingeschränkte Planungssicherheit und Kostenprognose für Netzbetreiber und Verbraucher sowie ein hoher bürokratischer Aufwand und hohe Komplexität. Die daraufhin vorgenommenen Änderungen im Festlegungsentwurf vom 15. Mai gegenüber dem Eckpunktepapier adressieren manche der aufgeworfenen Fragen und Hinweise, im Wesentlichen bleibt der Mechanismus zur Wälzung von EE-bedingten Mehrkosten jedoch unverändert.
So weit, so kompliziert. Haben Sie es direkt verstanden? Ich auch nicht. Aber zum Glück hat das Autorenteam einer von uns beauftragten Studie der TU Dresden es verstanden und im Zeitraum von Januar bis Ende Mai dieses Jahres das Ganze durchgerechnet und erstmals die Auswirkungen des Wälzungsmechanismus quantitativ prognostiziert. Die quantitativen Berechnungen zeigen, dass über den vorgeschlagenen Mechanismus bei Erfüllung der EEG-Ziele im Jahr 2030 etwa 40 Prozent und im Jahr 2040 mit zirka 60 Prozent voraussichtlich mehr als die Hälfte aller bei den Verteilnetzbetreibern anfallenden Kosten über die bundesweite Wälzung verteilt werden.
Dabei wird bei Erreichen der EEG-Ausbauziele für Wind und PV im Jahr 2040 eine Wälzungssumme von über 14,5 Milliarden Euro prognostiziert, die dann auf die Haushalte umgelegt über 60 Prozent der Erlösobergrenzen der Verteilnetzbetreiber ausmachen. Die flächendeckende Anwendung der Umlage führt zur gewünschten, gleichmäßigeren Ost-West und Stadt-Land Verteilung, aber zum Preis der vorher genannten Kritikpunkte.
Und diese Kritikpunkte haben es in sich. Was ist die wissenschaftliche Grundlage der Formel? Warum ist man ab einer EKZ von zwei wälzungsberechtigt und nicht ab 1, 1,5 oder 3? Was, wenn ein Netzbetreiber sein Netz so zuschneidet, dass Verbraucher und Erzeuger möglichst getrennt sind und er so maximal viel wälzen darf? Was, wenn im Gebiet eine große Fabrik aufmacht, dadurch die Jahreshöchstlast stark steigt und man plötzlich nicht mehr wälzen darf? Was, wenn sich eine Firma wegen des günstigen grünen Stroms in einer Region ansiedelt, die EKZ-Grenze dann aber politisch geändert wird und die vollen Netzentgelte plötzlich wieder gezahlt werden müssen und die Kosten der Fabrik dadurch massiv steigen?
Wer berechnet das alles alle zwei Jahre für alle rund 800 Verteilnetzbetreiber, wer kontrolliert das und wer versteht das am Ende noch alles? Und warum machen wir das, wenn wir bei einer erfolgreichen Energiewende dann 2040 ohnehin fast alles bundesweit wälzen?
Es braucht eine alternative Lösung: bundesweit einheitliche Netzentgelte
Aufgrund all dieser offenen Fragen sind wir bei der VSB Gruppe im Gespräch mit dem Lehrstuhl für Energiewirtschaft der TU Dresden zu der Überzeugung gelangt, dass es eine andere Lösung als den Wälzungsmechanismus braucht. Es braucht eine radikale Vereinfachung der Entgeltsystematik – quasi das „Deutschland-Ticket für den Netzanschluss“. Mit der Einführung bundesweit einheitlicher Netzentgelte, angelehnt an die Einführung einheitlicher Übertragungsnetzentgelte im Jahr 2017, könnte die Bundesnetzagentur die Verteilung der Kosten der notwendigen Investitionen in die Netze auf grundlegend neue Beine stellen. Einheitliche Netzentgelte leisten eine unbürokratische Entlastung für Regionen, die beim EE-Ausbau vorangehen. Außerdem bieten sie eine höhere Planungssicherheit für Netzbetreiber, Unternehmen und Haushalte.
Natürlich müssen wir als Branche den Preisanstieg des Netzausbaus so weit wie möglich dämpfen, die Netze effizienter nutzen und einen geografisch und netztechnisch optimierten Ausbau der Erneuerbaren Energien stemmen. Aber wir müssen die unweigerlich auftretenden Kosten des Netzausbaus auch fair verteilen und über eine transparente, verlässliche Regelung eine hohe Akzeptanz für die Gemeinschaftsaufgabe Energiewende schaffen.
Dr. Felix Grolman leitet als CEO die VSB Gruppe, einen führenden Projektentwickler im Bereich der Erneuerbaren Energien mit über 500 Mitarbeitenden. Seit 1996 hat das Unternehmen mehr als 700 Windenergie- und Photovoltaikanlagen errichtet.