Die Allverfügbarkeit von Elektrizität ist für uns heute eine Selbstverständlichkeit. Das war nicht immer so. Elektrizität war und ist eine entscheidende Voraussetzung für die Industrialisierung, die unsere Wirtschaft effizienter gemacht und unseren Wohlstand erhöht hat. Allerdings hat sich durch sie auch gezeigt: Disruptive Veränderungen erfordern einen handlungsfähigen Staat. Einen Staat, der Leitplanken festlegt, der Strukturbrüche abfedert und für den sozialen Ausgleich sorgt. Im Falle der Industrialisierung hat der Staat diese Leitplanken gesetzt.
Heute verursacht die zunehmende Digitalisierung disruptive Veränderungen. Gleiches gilt für den Klimawandel. Er macht grundlegende Veränderungen notwendig in der Art und Weise wie wir Energie erzeugen, Landwirtschaft betreiben, bauen, Güter produzieren. Für den Klimaschutz haben wir mit dem kürzlich verabschiedeten Klimapaket wichtige Leitplanken festgelegt. Für die Digitalisierung fehlen sie weitestgehend.
Industrie 4.0 geht nur mit Umweltpolitik 4.0
Doch wir brauchen Leitplanken, damit digitale Technologien ihre Chancen für gesellschaftliche Ziele wie den Klima- und Umweltschutz entfalten. Leitplanken, die verhindern, dass der zunehmende Energie- und Ressourcenverbrauch digitaler Anwendungen den Klimawandel weiter beschleunigt.
Da geht es nicht mehr um Umspannwerke, sondern um Smart Grids, um intelligente Netzsteuerung, dezentrale Energieversorgung, intelligente Verkehrsplanung und nachhaltige digitale Produktion. Für eine Industrie 4.0 brauchen wir auch einen Umweltpolitik 4.0. Wie diese im Detail aussehen kann, daran arbeiten wir im Bundesumweltministerium. Im März kommenden Jahres werde ich eine umweltpolitische Digitalagenda vorstellen.
Vor gut einem Jahr hat die Bundesregierung die KI-Strategie vorgelegt. Doch wir müssen auch diskutieren, ob und wie Künstliche Intelligenz (KI) eine Erfolgsformel für den Klima- und Umweltschutz werden kann. Sind grüne Codes der Schlüssel zu einer Umweltpolitik 4.0? Oder braucht unsere Erde einen „digital Detox“?
Künstliche Intelligenz für den Umweltschutz
Als Bundesumweltministerin habe ich die Vision, digitale Technologien, oder noch konkreter, KI für den Umweltschutz arbeiten zu lassen. Das braucht Anreize. Einen ersten konkreten Anreiz schafft die Förderinitiative meines Ministeriums „KI-Leuchttürme für Umwelt, Klima, Natur und Ressourcen“. In kürzester Zeit sind über 300 Ideen bei uns eingegangen. Das sind für mich 300 Chancen, um KI strategisch für Klima und Umwelt einzusetzen.
Allein dieses Interesse zeigt, welches Potenzial in dem Thema steckt. Diesen Schatz will das Bundesumweltministerium heben. Deshalb freue ich mich, dass der Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestags eine Aufstockung des KI-Leuchtturmprogramms um weitere 20 Millionen Euro beschlossen hat.
Es gibt viele Beispiele, wie die KI für den Umweltschutz genutzt werden kann. Mit Musterkennung und selbstlernenden Systemen können neues Wissen und Verständnis über unsere Ökosysteme geschaffen und viele Prozesse optimiert werden. Aus Umwelt-, Wetter- und Schädlingsdaten können Empfehlungen und Maßnahmen für den klimagerechten Waldumbau abgeleitet werden. Das schützt die biologische Vielfalt.
KI kann Solaranalagen effizienter machen. Aus Messdaten können Anlagen situationsabhängig und individuell optimiert werden – bis hin zur vollständig autonomen Steuerung. Oder nehmen Sie die urbane Mobilität, die vor einem gewaltigen Umbruch steht. Unter dem Stichwort Smart Mobility tauchen neben dem klassischen ÖPNV neue Mobilitätsangebote auf. Mit KI können Echtzeitdaten von Sharing-Anbietern und ÖPNV auf einer zentralen Plattform für eine umweltfreundliche Kombination von Verkehrsmitteln genutzt werden.
Wirtschaft, Wissenschaft und Politik vernetzen: „Digital Innovation Hub for the Climate“
Auch über die KI hinaus setzt sich das Umweltministerium dafür ein, dass digitale Innovationen für den Klimaschutz entstehen. Ein paar Beispiele: Im Klimaschutz-Maßnahmenprogramm 2030 ist ein „Digital Innovation Hub for the Climate“ vorgesehen. Das wird ein Ort zur Vernetzung von Wirtschaft, Wissenschaft und Politik, der Start-ups mit innovativen Lösungen für den Klimaschutz unterstützt. Im Rahmen des Energiesparprogramms Green-IT wird der Energieverbrauch der Bundes-IT massiv gesenkt. Trotz Leistungssteigerung beträgt die Einsparung gegenüber 2009 fast 60 Prozent.
Aber nationale Antworten reichen für globale Fragen nicht aus. Eine nachhaltige Digitalisierung kann nur Erfolg haben, wenn sie mindestens eine europäische ist. Ich mache deshalb die nachhaltige Digitalisierung zu einem Schwerpunkt der deutschen EU-Ratspräsidentschaft im zweiten Halbjahr 2020.
Die Standards in Europa können weltweit zum Vorbild werden. Denken Sie nur an die Ökodesign-Richtlinie, die – etwas überspitzt ausgedrückt – derzeit noch bei Kühlschränken Halt macht, die noch nicht fit genug für das digitale Zeitalter ist. Was früher der Fernseher war, ist heute das Smartphone. Deshalb werden zum Beispiel neue Standards für langlebige, reparierbare und updatefähige digitale Endgeräte gebraucht.
Europäische Definition digitaler Nachhaltigkeit
Ich setze mich dafür ein, dass Europa für sich definiert, was Nachhaltigkeit in der digitalen Welt bedeutet. Alternativ zu den ungeregelten amerikanischen Marktmonopolen und einer totalen staatlichen Datenkontrolle wie in China wird ein europäischer Weg dringend gebraucht. Das muss ein soziales und ökologisches, wirtschaftlich kraftvolles und demokratisches Europa sein, das digitale Innovationen voranbringt und seine Bürgerinnen und Bürger schützt.
Techis versus Ökos?
Die meisten Debatten über digitale Technologien drehen sich um schnelles Wachstum im internationalen Wettbewerb. Oft hört man, dass Deutschland bei KI ohnehin längst den Anschluss verloren habe. Die Digitalisierung wird dabei vor allem technologisch diskutiert, mit klaren Rollenzuschreibungen: Auf der einen Seite die Treiber der Moderne – die „Techis“. Auf der anderen die Bremser, die auf Energieverbräuche und Reboundeffekte verweisen – die „Ökos“.
Dieses Schubladendenken wird der Herausforderung nicht gerecht: Die „Techis“ und „Ökos“ müssen vernetzt werden und die Chancen von KI diskutieren und gleichzeitig die Risiken angehen. Das ist notwendig, um die Megatrends unserer Zeit – Digitalisierung und Klimawandel – erfolgreich zu gestalten.
Svenja Schulze ist seit 2018 Bundesministerin für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit. Zuvor war sie Ministerin für Innovation, Wissenschaft und Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen.