Energie-Klima icon

Energie & Klima

Standpunkte Overshoot: Schlechte Idee, aber einzige Option?

Julia Hönnecke und Lukas Daubner vom Zentrum Liberale Moderne
Julia Hönnecke und Lukas Daubner vom Zentrum Liberale Moderne

Das Ziel, die Erderwärmung auf 1,5 Grad zu begrenzen, wird die Menschheit in wenigen Jahren reißen. Aktuell wird diskutiert, ob die Erderwärmung später reduziert werden kann („Overshoot“). Warum das keine gute Lösung, aber wohl die einzige Option ist – und man dieser Diskussion auch etwas Gutes abgewinnen kann, begründen Lukas Daubner und Julia Hönnecke vom Berliner Thinktank Zentrum Liberale Moderne.

von Julia Hönnecke und Lukas Daubner

veröffentlicht am 27.01.2025

Lernen Sie den Tagesspiegel Background kennen

Sie lesen einen kostenfreien Artikel vom Tagesspiegel Background. Testen Sie jetzt unser werktägliches Entscheider-Briefing und erhalten Sie exklusive und aktuelle Hintergrundinformationen für 30 Tage kostenfrei.

Jetzt kostenfrei testen
Sie sind bereits Background-Kunde? Hier einloggen

Die beste Lösung, die Klimaerwärmung auf einem Niveau von 1,5 Grad im Vergleich zur vorindustriellen Zeit zu halten, ist es, schnell den CO2-Ausstoß zu reduzieren. Nüchtern betrachtet, ist die Menschheit dabei, dieses Ziel zu reißen. Als Konsequenz wird aktuell diskutiert, das CO2-Budget zu überziehen und in den Folgejahrzehnten diese „Klimaschulden“ wieder auszugleichen. Die Rede ist von „Overshoot“, oder zu Deutsch: vorübergehende Überschreitung.

Die Voraussetzung dafür, die Überschreitung von 1,5 Grad rückgängig zu machen, sind global netto-negative CO2-Emissionen. Die Reduktion von CO2 und anderen Treibhausgasen muss also größer sein als die restlichen menschengemachten Emissionen. Um dies zu erreichen, ist ein rascher Auf- und Ausbau von CO2-Entnahme (Carbon Dioxide Removal, CDR) nötig.

Ausgangslage: Was meint Overshoot?

Um es vorwegzunehmen: Overshoot ist keine gute Lösung. Um die globale Durchschnittstemperatur um 0,1 Grad zu senken, müssen etwa 220.000.000.000 Tonnen CO2 – 220 Gigatonnen – aus der Atmosphäre entnommen und permanent gespeichert werden. Das ist mehr als das Fünffache des CO2, das die Menschheit derzeit pro Jahr emittiert (2023: 39 Gt CO2).

Die Enormität dieser Aufgabe wird auch hier deutlich: Durch die weltweiten Aufforstungsaktivitäten werden derzeit etwa 2 Gt CO2 pro Jahr aus der Atmosphäre entnommen. Selbst wenn die verbleibenden CO2-Emissionen gleich null wären – wir also CO2-Neutralität erreicht hätten – würde es ein Jahrhundert dauern, um die globale Erwärmung durch Aufforstung um nur 0,1 Grad zu reduzieren.

Der globale Temperaturanstieg ist demnach – mit großer Kraftanstrengung – in Teilen umkehrbar. Das gilt allerdings nicht für alle Folgen des Klimawandelns. Hitzewellen und extreme Niederschläge werden zwar wahrscheinlich abnehmen. Die Meerestemperatur wird aber mehr Zeit benötigen, um zu sinken und der Meeresspiegel wird weiter steigen, wenn auch langsamer. Arten, die in der Zwischenzeit aussterben, bleiben ausgestorben. Wie groß die Auswirkungen auf die Ökosysteme und Biodiversität sein werden, ist unklar.

Hinzu kommen die sozioökonomischen und politischen Folgen. Auch eine vorübergehende Überschreitung von 1,5 Grad wird extremere Wetterereignisse zur Folge haben. Hierdurch entstandene Lebensmittelknappheiten, Land- und Infrastrukturschäden werden bestehende Unterschiede zwischen wohlhabenden und armen Regionen noch weiter vergrößern.

Overshoot ist eine Chance, der Realität ins Auge zu sehen

Wieso wird Overshoot trotzdem als Lösung diskutiert? Fakt ist: Es ist praktisch unvermeidbar, dass die globale Erwärmung in den nächsten Jahren die Schwelle von 1,5 Grad überschreitet. Daher halten es einige Klimawissenschaftler:innen für sinnvoller, bis zum Jahr 2100 zu 1,5 Grad zurückzukehren, als 1,5 Grad für immer zu überschreiten – also Klimaneutralität beispielsweise bei 2 Grad zu erreichen und sich dort einzupendeln.

Andere haben die Sorge, dass die Möglichkeit der vorübergehenden Temperaturüberschreitung oder nur die Debatte darüber von einem schnellen Klimaschutz ablenkt. Zu verlockend scheint die Option, heute weniger konsequent im Klimaschutz zu sein, schwierige Entscheidungen zu vertagen und das Problem in die Zukunft zu verschieben.

Die Sorge ist berechtigt. Wir sehen in der Overshoot-Debatte aber auch eine Chance. Die Debatte über das Für und Wider verdeutlicht die Verheerungen, die entstehen, wenn das Erdklima nur wenige Jahrzehnte 1,5 Grad übersteigt. Sie veranschaulicht außerdem die schiere Menge an CO2, die die Menschheit in die Atmosphäre bläst und wie groß die Aufgabe ist, das CO2 wieder zu entnehmen, um zu 1,5 Grad zurückzukehren. Das Nachdenken über einen Overshoot verdeutlicht außerdem, dass die Menschheit noch Handlungsmacht hat. Das ist gerade für Demokratien eine wichtige Botschaft.

Die Debatte über Overshoot eröffnet zudem einen Blick in die zweite Hälfte des Jahrhunderts und darüber hinaus. Diese Perspektive verdeutlicht, dass Klimapolitik eine Aufgabe ist, die nicht zur Mitte des Jahrhunderts erledigt ist, sondern noch viele Jahrzehnte oder Jahrhunderte besteht.

Dieses Verständnis ist wichtig, um über die Wegmarken 2045 (Treibhausgasneutralität) und 2050 (netto-negative Treibhausgasmissionen) hinwegzudenken. Bisher wird viel zu wenig darüber nachgedacht, wie negative Emissionen global im großen Stil realisiert werden können. Neben enormen volkswirtschaftlichen Kosten (Schätzungen gehen davon aus, dass CO2-Entnahme in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts zwischen 0,3 und 3 Prozent der globalen Wirtschaftsleistung ausmachen wird), wird es Konflikte um Flächen und andere Ressourcen geben.

Es zeichnet sich darüber hinaus ein schwerwiegender globaler Verteilungskonflikt ab, der noch nicht ansatzweise verstanden oder gelöst ist: Wer zahlt für die CO2-Entnahme und -Speicherung, welche Länder und Regionen müssen wie viel entnehmen? Welche globalen Governance-Strukturen sind nötig, um diesen Prozess zu regulieren?

Die Debatte bietet auch die Chance zu verstehen, dass die Erwärmung kein Nullsummenspiel ist. Es geht nicht darum, 1,5 Grad einzuhalten oder aufzugeben. Jedes Zehntel Grad Erderwärmung wird auch in den nächsten Jahrhunderten darüber entscheiden, ob Gletscher abschmelzen, Korallen sterben, Menschen verhungern oder Klima-Kipppunkte überschritten werden. Entscheidend ist, bei welchem Punkt der Temperaturhöhepunkt erreicht wird. Denn Overshoot ist nicht eine weitere Lösung zum selben Ziel: eine Zwei-Grad-Welt sieht signifikant anders aus als eine, die bei 1,5 Grad Erderwärmung bleibt.

Wie weiter in eine Overshoot-Welt?

Unabhängig davon, ob einem die Idee eines Overshoots gefällt oder nicht – es wäre unverantwortlich, sich nicht jetzt schon auf diese Option vorzubereiten. Hierzu sind aus unserer Sicht unter anderem folgende Schritte nötig:

  • CO2-Entnahme fördern und ausbauen: Die nächste Bundesregierung sowie die EU-Kommission müssen CO2-Entnahme fördern und incentivieren, damit die Kapazitäten möglichst rasch ausgebaut werden können. Großskalige CO2-Entnahme wird mindestens für den Ausgleich von Residualemissionen benötigt, um Klimaneutralität zu erreichen. Sie muss also in jedem Fall ausgebaut werden. Wir sollten nicht darauf warten, bis die Wissenschaft Anfang der 2030er Jahre mitteilt, dass die 1,5-Grad-Marke überschritten ist.
  • Lastenausgleich diskutieren: Global – aber mindestens in Europa – muss darüber diskutiert werden, wie ein Lastenausgleich aussehen kann: Welche Staaten und andere Akteure müssen in welchem Zeitraum wie viel CO2 entnehmen. Das wird eine schwierige Diskussion, die im Kern eine Frage der historischen sowie globalen Gerechtigkeit ist. Die Forderung nach einem separaten Entnahme-Ziel auf EU-Ebene und die Einigung auf der COP 29 zum Artikel 6 des Pariser Klimaschutzabkommens sind Anfänge.
  • Zweitbeste Lösungen akzeptieren: Overshoot ist keine ideale Lösung. Wir sind aber in einer Phase des Klimaschutzes angelangt, in der ideale Lösungen ein Luxus sind, den wir uns nicht mehr leisten können. Bei Overshoot wie bei anderen Fragen der Transformation müssen sich alle Beteiligten darauf einstellen, zweitbeste und pragmatische Lösungen zu akzeptieren. Es ist jetzt sowohl technologische sowie soziale Kreativität gefragt.

Lukas Daubner ist promovierter Soziologe und Programmdirektor des Programmbereichs Ökologische Moderne beim Zentrum Liberale Moderne. Julia Hönnecke ist Projektmanagerin im Programmbereich Ökologische Moderne.

Lernen Sie den Tagesspiegel Background kennen

Sie lesen einen kostenfreien Artikel vom Tagesspiegel Background. Testen Sie jetzt unser werktägliches Entscheider-Briefing und erhalten Sie exklusive und aktuelle Hintergrundinformationen für 30 Tage kostenfrei.

Jetzt kostenfrei testen
Sie sind bereits Background-Kunde? Hier einloggen