Die Wechselwirkung zwischen Wettbewerbsfähigkeit und den Zielen des europäischen Grünen Deals ist derzeit ein wichtiger Punkt auf der EU-Tagesordnung. Die Vorzeigepolitik der Gemeinschaft sieht sich derzeit vielen Angriffen ausgesetzt nicht nur von Landwirten, die in Frankreich, den Niederlanden, Deutschland und anderen Ländern auf den Straßen gegen die an sie und ihre Branche gestellten Forderungen protestieren, sondern auch von prominenten Köpfen aus den Reihen der Gemeinschaft, etwa Belgiens Premierminister Alexander de Croo.
Wie andere in der Europäischen Union regte de Croo eine Deregulierungder Umweltpolitik an, um die kriselnde belgische Chemiebranche zu stimulieren, die bei der Ausarbeitung der Antwerpener Erklärung für einen europäischen „IndustrialDeal“ eine zentrale Rolle spielte. Eine solche Trendwende und eine Verwässerung des Grünen Deals birgt jedoch Risiken.
Wie Ursula von der Leyen 2019 im Vorfeld ihrer Wahl zur Kommissionspräsidentin erklärte: „Der europäische Grüne Deal ist unsere neue Wachstumsstrategie.“ Und grüne Politik ermöglicht schon jetzt europäische Geschäftsmöglichkeiten. Einige, wie die Offshore-Windkraft, sind bereits etabliert. Andere Innovationen zeigen erste Erfolge: beispielsweise Technologien zur Stromübertragung oder die kohlenstoffarme Stahlproduktion, wie Schwedens „grüner Stahl“, sowie verschiedene Lösungen für die Kreislaufwirtschaft.
Mehr Investitionen in Forschung und Innovation
Die Besorgnis über die Wettbewerbsfähigkeit ist verständlich, insbesondere im Fall energieintensiver Industriezweige. Wie die Europäische Kommission in ihrem jüngsten Jahresbericht über den Binnenmarkt und die Wettbewerbsfähigkeit feststellte, muss noch viel mehr getan werden – mehr Investitionen in Forschung und Innovation, ein besser funktionierender Energiemarkt und ein Ausbau von Qualifizierungen.
Doch Hauptansatz einer modernen Industriepolitik kann nicht der Schutz jedes bestehenden Wirtschaftsbereichs sein. Sie muss auch die Bedingungen für Innovationen und neue Unternehmen schaffen. Eine vereinfachende Auffassung von Regulierung dürfte der Wettbewerbsfähigkeit daher abträglich sein. Die EU-Kommission hat gezeigt, wie eine gut durchdachte Regulierung eine Schlüsselrolle bei der Förderung innovativer grüner Technologien spielen kann.
Man denke nur daran, wie Kraftstoffverbrauchsnormen für Fahrzeuge zu neuen Leichtbaulösungen geführt haben, oder an die zügige Entwicklung von erneuerbaren Energietechnologien. Auf diese Weise lassen sich auch Märkte für andere innovative Technologien schaffen, etwa für kohlenstoffarme Stahlerzeugung.
Auf den Markt zu vertrauen, ist zu riskant
Für die EU-Führung, die im März und April zusammenkommt, um den Standpunkt der Kommission und den bevorstehenden Bericht des früheren italienischen Ministerpräsidenten Enrico Letta über die Zukunft des Binnenmarkts zu erörtern, könnte dies in der gemeinschaftlichen grünen Politik ein entscheidender Moment werden – vor allem, wenn sich die Verfechter einer „regulatorischen Pause“ am Ende durchsetzen.
Hierfür gibt es mehrere Gründe. Erstens ist es riskant, ausschließlich auf Marktmechanismen zu vertrauen. Umfangreiche Forschungsarbeiten haben die Vorteile einer guten Zusammenstellung politischer Strategien zur Erreichung von Klimazielen gezeigt.
Ohne eine EU-Regelung zur Förderung von Elektrofahrzeugen beispielsweise müsste der CO₂-Preis viel höher sein. Fehlende Regulierung würde die Kosten für Verbraucher, Unternehmen und Regierungen erhöhen, welche gezwungen wären, mehr in Ausgleichsmaßnahmen für schwache Regionen und Haushalte zu investieren.
Zweitens verlöre Europa an internationaler Durchsetzungskraft. Gegenwärtig setzt die EU die Standards, an denen sich andere orientieren; neue Untersuchungen der Kommission zeigen, in welch gewaltigem Ausmaß dies geschieht, insbesondere im Hinblick auf Umweltgesetzgebung. So tragen Busse auf der ganzen Welt Hinweisschilder, die die Einhaltung von EU-Emissionsnormen bekunden – um nur ein Beispiel für den „Brüsseler Effekt“ zu nennen.
Gemeinsame EU-Regeln für neue Technologien
Dies macht Maßnahmen der EU in einer Zeit, in der ihr Anteil an der Weltwirtschaft rückläufig ist, so wichtig. Wenn Europa jetzt zurückrudert, steigt die Gefahr, dass andere aufholen und Europas globaler Einfluss schwindet, womit der Weg für die Industrie in anderen Ländern frei wird, die wachsenden Märkte für grüne Technologien zu erobern.
Nicht zuletzt kann fehlende Regulierung teuer werden. Die Verzögerung bei der Beschränkung hochgradig krebserregender polychlorierter Biphenyle (PCB) kostete die EU mindestens 15 Milliarden Euro – und macht deutlich, dass ein Verzicht auf strengere EU-Rechtsvorschriften einen hohen Preis haben kann.
Letztlich geht es dabei um die Geschlossenheit der Gemeinschaft selbst. Gemeinsame Regeln für neue Technologien sind für das europäische Projekt von grundlegender Bedeutung. Kommt es zu einer Regulierungspause, werden Mitgliedstaaten das Vakuum mit eigenen Gesetzen füllen und den Binnenmarkt fragmentieren. Und ohne eine gute EU-weite Gesetzgebung als Leitplanke besteht die Gefahr, dass staatliche Subventionen die Modernisierung der Wirtschaft nicht angemessen fördern.
Das soll nicht andeuten, dass die Umsetzung des europäischen Grünen Deals einfach ist. Für Mitgliedstaaten mit begrenzter Verwaltungsstruktur stellt er eine erhebliche Herausforderung dar. Langfristig muss die Finanzierung noch gesichert werden. Die Auflagen für die Berichtspflicht können für kleine und mittlere Unternehmen überfordernd sein.
Diese Aspekte sind jedoch keine Entschuldigung für den Verzicht auf eine tragfähige Umweltpolitik. Vielmehr weisen sie auf die Notwendigkeit hin, Rechtsvorschriften gut zu gestalten und angemessene Maßnahmen zu ergreifen, um Zusammenhalt und gerechte Übergangsprozesse zu gewährleisten. Ein Abrücken davon würde die Fortschritte der EU bei der Verwirklichung ihrer sozialen und ökologischen Ziele gefährden und ihre Wettbewerbsfähigkeit aufs Spiel setzen.
Ja, es muss mehr getan werden, um die Industrie in Europa zu fördern. Aber ein Rückzieher von der Vision des Grünen Deals ist nicht die Antwort.
Mats Engström forscht als Senior Policy Fellow bei der Denkfabrik European Council on Foreign Relations zu EU-Themen. Zuvor arbeitete er unter anderem als Staatssekretär im Stockholmer Umwelt- und später als Berater im Außenministerium unter Anna Lindh.