Standpunkte Wie die neue Definition von Energiesicherheit aussehen könnte

Aus logistischer Sicht hat Europa seine Abhängigkeit von Energieimporten aus Russland überwunden. Nun rückt eine neue Kategorie der Versorgungssicherheit in den Fokus, schreibt George Niculescu, Präsident der rumänischen Energie-Regulierungsbehörde (ANRE). Seiner Ansicht nach können Regulierungsbehörden in dieser Angelegenheit nicht mehr nur als neutrale Schiedsrichter agieren.
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Jetzt kostenfrei testenEs ist noch nicht lange her, da wurde die Sicherheitslage Europas in der Energieversorgung von einer einzigen Sorge dominiert: der Versorgungssicherheit. Die Angst vor einer plötzlichen Unterbrechung der Gaslieferungen aus Russland überschattete sowohl die nationalen Energiestrategien als auch die EU-Politik. Energieminister, Regulierungsbehörden und Märkte agierten unter der Last dieser Abhängigkeit – einer Abhängigkeit, die über Jahre hinweg als unausweichlich galt.
Dann kam das Jahr 2022. Der Krieg in der Ukraine, zusammen mit mehreren Wellen von EU-Sanktionen, erzwang eine beschleunigte Abkopplung von russischen fossilen Brennstoffen. Es war wie eine hässliche Scheidung: laut, chaotisch und beide Seiten mussten leiden. Heute erleben wir eine bemerkenswerte Umkehrung dieses Paradigmas: Europa funktioniert ohne russisches Gas.
Flüssigerdgas (LNG), erneuerbare Energien, der Ausbau von Speicherkapazitäten, die Reduktion des Energieverbrauchs und eine smartere Vernetzung haben dazu beigetragen. Die Versorgungssicherheit, die einst die umfassende Definition von Energiesicherheit war, ist nicht mehr die einzige Perspektive, aus der wir dieses Konzept betrachten müssen.
Doch dieser Wandel hat uns nicht sicherer gemacht – er hat lediglich das Schlachtfeld verändert.
Wenn die alte Energiesicherheit von Pipelines und Lieferströmen bestimmt war, so geht es bei der neuen Energiesicherheit um Resilienz. Nicht nur physische Resilienz, sondern auch digitale, kognitive und gesellschaftliche Widerstandsfähigkeit.
Der jüngste Stromausfall in Spanien und Portugal sollte eine Warnung sein. Stromnetze sind mittlerweile attraktive Ziele für feindliche Akteure. Je digitaler unsere Infrastruktur wird, desto stärker überschneidet sie sich mit den Schwachstellen des Cyberraums. Die Sicherung der Netzinfrastruktur ist heute nicht mehr nur eine technische oder ingenieurtechnische Herausforderung – sie ist eine nationale Sicherheitsaufgabe.
Zudem dringen Desinformationskampagnen und energiebezogene Propaganda – oft orchestriert von Russland oder pro-russischen Netzwerken – mit alarmierender Effektivität in unsere öffentliche Agenda ein. Diese Narrative nutzen hohe Energiepreise, Ermüdung gegenüber der grünen Transformation oder Ängste vor technologischem Wandel aus. Ihr Ziel ist nicht, alternative Energielösungen anzubieten, sondern das Vertrauen in unsere Institutionen zu erschüttern, Gesellschaften zu polarisieren und notwendige Reformen zu verzögern.
Regulierungsbehörden nicht nur neutrale Schiedsrichter
Als Regulierungsbehörden können wir uns nicht mehr allein als neutrale Schiedsrichter von Marktgestaltung oder Tarifsystemen sehen. Wir müssen unsere Rolle im größeren Kontext der gesellschaftlichen Resilienz erkennen. Die regulatorische Landschaft muss nun auch Protokolle für Cyber-Sicherheit, Strategien zur öffentlichen Kommunikation und eine enge Zusammenarbeit mit anderen Institutionen umfassen – von Netzbetreibern über Cyber-Sicherheitsbehörden bis hin zu internationalen Partnern.
Zur Frage: Gibt es eine neue Definition von Energiesicherheit? – Die Antwort lautet: Ja. Diese Definition ist noch im Entstehen, aber ihre Grundpfeiler sind bereits sichtbar:
- Versorgung – Nach wie vor relevant, aber zunehmend diversifiziert und beherrschbar;
- Netze – Die neue Frontlinie, an der digitale Schwachstellen auf physische Konsequenzen treffen;
- ·Integrität der Informationen – Der Kampf um öffentliches Vertrauen ist ebenso essenziell wie die Stabilität der Märkte;
- Institutionelle Anpassung – Resilienz ist heute genauso wichtig wie Regulierung.
Als Präsident von ANRE bin ich überzeugt, dass wir nicht nur Energie regulieren müssen – wir müssen sie in all ihren modernen Dimensionen verteidigen. Das ist die Energiesicherheit des 21. Jahrhunderts. Und sie beginnt mit der Neudefinition ihres Begriffs.
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