Seit langem belegen die Daten der gesetzlichen Krankenkassen und der Rentenversicherung eine Zunahme psychischer Erkrankungen. Inzwischen sind sie der zweithäufigste Grund für Fehltage von Arbeitnehmern, wie jüngst die Krankenstands-Analyse der DAK-Krankenkasse zeigte. Corona wirkt sich zusätzlich auf die seelische Gesundheit vieler Menschen aus: Depressionen, Ängste, Schlaf- oder Essstörungen haben enorm zugenommen; jüngste Studien verzeichnen einen Anstieg um 80 Prozent seit Beginn der Corona-Pandemie.
Der Bedarf an psychosomatischen Behandlungsangeboten ist somit ungebrochen. Eine Richtlinie, die unter dem etwas sperrigen Namen „PPP-RL“ aktuell nur in Fachkreisen diskutiert wird, könnte gravierende Konsequenzen für die Verfügbarkeit von Behandlungsplätzen in psychosomatischen Kliniken haben. Wird sie in ihrer derzeitigen Form umgesetzt, droht der Abbau diverser Betten zu Lasten aktueller und zukünftiger Patienten.
Die Richtlinie zur Personalausstattung in der Psychiatrie und Psychsomatik, wie sie ausgeschrieben heißt, wurde jüngst vom Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) in überarbeiteter Fassung vorgelegt. Sie regelt die zeitlichen Mindestvorgaben für einzelne Berufsgruppen in den Fachkliniken. Konkret definiert sie Minutenwerte für Ärzte, Psychotherapeuten, Pflegepersonal und Spezialtherapeuten, deren Nichteinhaltung sanktioniert wird. Problematisch an diesen Minutenwerten ist ihr Zustandekommen und ihre Höhe.
Der Psychosomatik wurden Werte übergestülpt
Der Bundestag hatte den G-BA 2016 beauftragt, neue Minutenwerte für psychosomatische und psychiatrische Kliniken zu erarbeiten. Dies war auch deswegen dringend erforderlich, weil sich die Psychosomatik in den letzten Jahrzehnten zu einem eigenen Zweig weiterentwickelt hatte. Zudem sind die Anforderungen in Bezug auf den zeitlichen Einsatz der Berufsgruppen in der Psychosomatik andere als in der Psychiatrie. Am deutlichsten wird das am Beispiel der Pflege. Während psychiatrische Patienten in der Regel pflegeintensiv sind, sind psychosomatische Patienten nicht bettlägrig und benötigen deutlich weniger Pflege. Die selbstständige Durchführung von pflegerischen Tätigkeiten gehört in der Psychosomatik gar zum Behandlungskonzept eines strukturierten Tagesablaufs.
Der G-BA gab ursprünglich eine evidenzbasierte Studie in Auftrag, um realistische Minutenwerte für die Psychosomatik zu erarbeiten – aufgrund inhaltlicher Mängel konnten die Ergebnisse dieser Studie aber nicht verwendet werden. Weil es an besseren Daten fehlte, beließ man schlicht die aus den 1990er Jahren stammenden Werte der Psychiatrie in Kraft und stülpte sie der Psychosomatik über. Die Konsequenz: Fast alle psychosomatischen Fachkliniken haben gemäß dieser Werte zu wenig Pflegekräfte und zu viele Psychotherapeuten.
Die Kliniken müssen die Einhaltung der Minutenwerte quartalsweise nachweisen. Abweichungen werden sanktioniert, das heißt, es drohen Vergütungsausfälle. Zwar wurde der Sanktionsmechanismus in der vorliegenden Fassung etwas entschärft und zumindest für 2021 ist die Sanktionierung noch ausgesetzt. Doch spätestens ab 2022 müssen psychosomatische Kliniken damit rechnen, dass sie einen Teil ihrer Behandlung nicht mehr von den Kostenträgern erstattet bekommen. Um das zu vermeiden, bleibt den Kliniken nur ein Ausweg: Betten abbauen. Berechnungen haben ergeben, dass rund ein Drittel der Therapieplätze gestrichen werden müsste, wenn man die Vorgaben erfüllen will.
Pflegekräfte werden massiv abgeworben
Die Problematik ist von vielen Akteuren der Selbstverwaltung erkannt worden. Was fehlt ist ein koordinierter Prozess, wie das nächste Jahr genutzt werden kann, um eigene Minutenwerte für die Psychosomatik zu gewinnen. Denn dass sich das Problem nicht einfach durch die Einstellung von zusätzlichen Pflegekräften lösen lässt, ist jedem klar, der den Arbeitsmarkt für diese Berufsgruppe kennt. Wenn sich an der Richtlinie nichts ändert, werden die psychosomatischen Kliniken massiv Pflegekräfte von somatischen Häusern abwerben – doch sinnvoll beschäftigen können sie sie nicht und gleichzeitig fehlen sie anderenorts, wo sie tatsächlich dringender benötigt werden.
Denjenigen, die sich bislang gegen eine Absenkung der Minutenwerte aussprechen, sollte klar sein, dass sie die adäquate psychische Versorgung großer und wachsender Bevölkerungsschichten gefährden. Es geht den psychosomatischen Kliniken nicht darum, Personal einzusparen. Es geht darum, das richtige Personal in der erforderlichen Menge für die bestmögliche Behandlung psychisch kranker Menschen zur Verfügung zu haben.
Dr. Mate Ivančić ist seit 2019 CEO und Vorsitzender Geschäftsführender Direktor der Schön Klinik SE.