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Standpunkte Black Box Psychiatrie

Dr. Mechtild Schmedders, Leiterin des Referats Krankenhauspersonal und Qualitätssicherung beim GKV-SV
Dr. Mechtild Schmedders, Leiterin des Referats Krankenhauspersonal und Qualitätssicherung beim GKV-SV Foto: GKV-Spitzenverband

Fehlende Transparenz über das Versorgungsgeschehen verhindert Fortschritt in der psychiatrischen Versorgung, meint Dr. Mechtild Schmedders. Sie leitet beim Spitzenverband der Gesetzlichen Krankenversicherung das Referat Krankenhauspersonal und Qualitätssicherung. In Ihrem Standpunkt plädiert Schmedders dafür, die strukturierte Datenerhebung zu forcieren. Dies sei Voraussetzung für eine echte Reform der stationären psychiatrischen Versorgung.

von Dr. Mechtild Schmedders

veröffentlicht am 19.08.2024

aktualisiert am 10.09.2024

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„Intensivierung und Förderung der Forschung“ – so lautet eine Überschrift im Schlussbericht der Psychiatrie-Enquête aus dem Jahr 1975, aus dem noch heute gerne zitiert wird. Dort heißt es, dass die Voraussetzung für die Verbesserung des Versorgungssystems und der Behandlungsmöglichkeiten eine planmäßige Intensivierung und Förderung der Forschung im Bereich der Psychiatrie und der Psychotherapie/Psychosomatik sei.

Fast 50 Jahre und damit 13 Legislaturperioden später sollte man vielleicht einmal fragen, wie es um die Forschung, insbesondere die Versorgungsforschung, in Psychiatrie und Psychosomatik bestellt ist? Eine gute Versorgungsforschung mit dem Ziel, die Versorgung zu verbessern, braucht Daten und damit Transparenz darüber, was in der Patientenversorgung tatsächlich geschieht. Hierzu stellt die Regierungskommission zur Reform der Krankenhausstrukturen fest, dass es mit der Transparenz hinsichtlich der durchgeführten diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen in der psychiatrischen Krankenhausversorgung nicht so weit her ist. So sei beispielsweise in der Erwachsenenpsychiatrie die Polypharmazie als ein relevantes Qualitätsdefizit erkannt, eine regelhafte Transparenz hinsichtlich Art und Ausmaß dieser gleichzeitigen und dauerhaften Einnahme mehrerer Arzneimittel bestehe jedoch nicht.

Ein Mangel an Transparenz über das tatsächliche Versorgungsgeschehen in den Kliniken steht einer fundierten Versorgungsforschung entgegen, die darauf zielt, das Versorgungsystem und die Behandlungsmöglichkeiten zu verbessern. An 1156 Krankenhausstandorten wurden im Jahr 2022 circa 983.000 Fälle (kinder-)psychiatrisch oder psychosomatisch behandelt. Die Informationen darüber, mit welchen Medikamenten oder anderen therapeutischen Therapieansätzen die Patientinnen und Patienten behandelt wurden, schlummern in den Patientenakten und entziehen sich damit einer systematischen Evaluation. Dies ist auch aus epidemiologischer Sicht hochproblematisch. Deutschland fehlt nicht nur eine systematische und kontinuierliche Ermittlung der Krankheitslast in der Bevölkerung und damit des Behandlungsbedarfs bei psychischen Störungen, sondern es mangelt zudem an einer Analyse der Behandlungsergebnisse und -folgen.

Verordnungsgeschehen von Psychopharmaka in Kliniken nicht systematisch analysiert

Im Vergleich zu den Gesamtkosten der (kinder-)psychiatrischen und psychosomatischen Krankenhausbehandlung im Jahr 2022 in Höhe von 9,2 Milliarden Euro ist der Anteil der Ausgaben für Psychopharmaka mit schätzungsweise 67 Millionen Euro und damit Kosten je Tagesdosis von 60 bis 70 Cent eher nachrangig. Ungeachtet dessen spielt die Pharmakotherapie in der Krankenhausbehandlung von Personen mit psychischen Erkrankungen eine, wenn nicht gar die zentrale Rolle. Im ambulanten Sektor wird das Verordnungsgeschehen konsequent erfasst – so gab es beispielsweise bei den Neuroleptika/Antipsychotika im Jahr 2022 über 10 Millionen Verordnungen, bei den Antidepressiva waren es über 20 Millionen. Wie das Verordnungsgeschehen im Krankenhaussektor aussieht, wird nicht erhoben.

Immer wieder wird über die schweren Nebenwirkungen zahlreicher Psychopharmaka, das Polypharmazie-Problem oder auch den Off-Label-Use beispielsweise von Neuroleptika in der stationären Kinder- und Jugendpsychiatrie berichtet. Eine systematische Erfassung und Evaluation des Behandlungsgeschehens in der voll-, teil- und stationsäquivalenten Versorgung ist jedoch bis heute nicht durchgesetzt worden. Neuroleptika beispielsweise, die unter anderem Menschen mit Psychosen, psychomotorischen Erregungszuständen oder Depressionen gegeben werden, können schwere und schwerste Nebenwirkungen hervorrufen wie irreversible Bewegungsstörungen, Apathie, Krampfanfälle, Gewichtszunahme und Sprachverarmung.

Darüber hinaus können Veränderungen der Gehirnstruktur und auch lebensbedrohliche Nebenwirkungen auftreten. Auch Antidepressiva können viele vegetative und neurologische Symptome hervorrufen, die von Übelkeit und Erbrechen bis zu Zittern und Krampfanfällen reichen. In welchem Umfang und in welcher Intensität es zu solchen unerwünschten Ereignissen kommt, ist eine relevante epidemiologische Fragestellung. Erkenntnisse darüber könnten wichtige Rückschlüsse auf medikamentöse Therapieregime ermöglichen.

Erhebung und Evaluation fundierter Daten ohne großen Aufwand möglich

Transparenz und damit die Grundlage für eine fundierte Evaluation wären schnell und ohne großen Aufwand herzustellen. Zurecht verweist die Regierungskommission auf das OPS-System (Operationen und Prozedurenschlüssel), das die psychiatrischen Maßnahmen unzureichend differenziert abbildet. Mit dem entsprechenden politischen Signal könnte das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) den sogenannten ICD-Katalog, das heißt den Katalog der Krankheiten, und den OPS-Katalog weiterentwickeln.

Würde der Katalog der Krankheiten eine indikationsspezifische Kodierung des Schweregrads beziehungsweise der Symptombelastung und eine Einstufung des sozialen Umfeldes zulassen und mit dem OPS-Katalog die pharmakologischen und sprechenden Therapieansätze erfasst werden, wäre die Grundlage für die Datenerhebung geschaffen. In der digitalen Welt ist dies nicht mit Zusatzaufwänden beim Klinikpersonal verbunden, die diese Informationen ohnehin in den digitalen Patientenakten zu erfassen haben. Die Daten gelangen von den Krankenhäusern an die Krankenkassen und von dort an das Forschungsdatenzentrum des BfArM, um sie im Einklang mit den datenschutzrechtlichen Bestimmungen der Forschung zugänglich zu machen.

Voraussetzung für eine Psychiatriereform

Im Sinne der Patientinnen und Patienten gedacht ist es ein großes Versäumnis, dass Transparenz und Versorgungsforschung in der (kinder-)psychiatrischen und psychosomatischen Krankenhausversorgung in Deutschland bis heute ein Schattendasein pflegen. Die Datenlage in der Somatik ist deutlich besser und ohne sie wären sowohl die Analysen zur Krankenhausreform als auch die Transparenz in den Qualitätsberichten der Krankenhäuser und im Bundes-Klinik-Atlas nicht denkbar. Die Koalitionäre aus SPD, Grünen und FDP haben sich im Jahr 2021 das Ziel gesetzt, die psychiatrischen und psychotherapeutischen Versorgungskapazitäten bedarfsgerecht, passgenau und stärker koordiniert auszubauen. Um dieses hehre Ziel in Angriff zu nehmen, bedarf es einer weitaus größeren Versorgungs- und Angebotsanalyse und damit deutlich mehr Versorgungstransparenz.

Eine große Psychiatriereform, so wie im Koalitionsvertrag mit dem sektorenübergreifenden Reformansatz skizziert, wird es in dieser Legislaturperiode wohl nicht mehr geben. Es besteht aber die Chance, mit einem leicht umsetzbaren Transparenz- und Forschungsimpuls für die (kinder-)psychiatrische und psychosomatische Krankenhausversorgung die unverzichtbaren Grundlagen für eine grundlegende Versorgungsreform zu schaffen.

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