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Standpunkte Der Ökonomisierungstrend als Gefahr

Markus Mai ist Präsident der Landespflegekammer Rheinland-Pfalz
Markus Mai ist Präsident der Landespflegekammer Rheinland-Pfalz Foto: Clemens Hess

Der fortschreitende Ökonomisierungstrend stellt nicht nur für die Berufsgruppe der Pflegefachpersonen eine Gefahr dar, sondern bedroht den fest im Gesundheitswesen verankerten Gedanken der öffentlichen Daseinsvorsorge, meint Markus Mai, Präsident der Landespflegekammer Rheinland-Pfalz, im Standpunkt.

von Markus Mai

veröffentlicht am 12.11.2020

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Der Ökonomisierungstrend im Gesundheitswesen schreitet immer weiter voran. Die Ursachen sind dabei hauptsächlich systembedingt und werden durch das Handeln unterschiedlich motivierter Akteure verschärft. Als Folge ist eine für die Versorgungssicherheit bedrohliche Krise der deutschen Krankenhauslandschaft eingetreten. Während die Leistungsträger Beitragsstabilität erreichen wollen und den Versuch vornehmen, reduzierend auf die Budgetentwicklung einzuwirken, stehlen sich die Bundesländer, die eigentlich für die komplette Ausfinanzierung der Investitionen zuständig sind, mit schönredenden Argumenten aus ihrer Verantwortung. Aktionäre und Inhaber privat geführter Unternehmen zielen darauf ab, ihr eingelegtes Kapital zu vermehren. Krankenhäuser, die schon jetzt in den roten Zahlen stehen und die überwiegend durch die öffentliche Hand durch Kommunen alimentiert werden, haben ein großes Interesse daran, Kosten einzusparen, um Verluste zu reduzieren. Die Alternative zur Kostensenkung ist die Erlössteigerung, die im derzeitigen System fast ausschließlich über Mengensteigerung möglich ist. Aber auch diese Variante stößt zunehmend an ihre Grenzen, zuletzt auch da die stationären Behandlungsanlässe allmählich ausgehen. 

Bemerkbar machte sich dieser Trend vor allem durch die Steigerung der Fallzahlen in Kliniken bei gleichbleibender Personalausstattung. Insbesondere in der Pflege führen mangelhafte Personalschlüssel zu schlechter Qualität, ausgebranntem Personal und somit zu einer Gefährdung der allgemeinen Versorgungssicherheit. Die durch Gewinnorientierung motivierten Einsparungen beim Personal haben zur Folge, dass Pflegefachpersonen tagtäglich an ihre Belastbarkeitsgrenzen stoßen. Die jährlich erscheinenden Gesundheitsreports der Techniker Krankenkasse kommen zu dem immer gleichen Ergebnis: Beschäftigte im Gesundheitswesen werden im Schnitt öfter krank als Beschäftigte anderer Branchen. Der fortschreitende Ökonomisierungstrend stellt jedoch nicht nur für die Berufsgruppe der Pflegefachpersonen eine Gefahr dar, sondern bedroht den im Gesundheitssystem fest verankerten Gedanken der öffentlichen Daseinsvorsorge. 

Schon vor der rasanten Ausbreitung des Coronavirus stellten Personalengpässe in der professionellen Pflege ein enormes Risiko für das deutsche Gesundheitssystem dar. Die Situation hat sich mit der Pandemie nun weiter zugespitzt. Eine solide Personalausstattung in Pflegeeinrichtungen und Krankenhäusern ist zur Sicherstellung der pflegerischen Versorgung zu jedem Zeitpunkt unabdingbar. Die gesetzlich beschlossenen Pflegepersonaluntergrenzen im Krankenhaus können in diesem Kontext durchaus als erster wichtiger Schritt, als deutliches Signal, dass es so wie bisher nicht weitergehen kann, bezeichnet werden. Sie stellen eine rote Linie da, deren Unterschreitung insbesondere Patienten hellhörig werden lassen sollte. Als besonders kritisch ist jedoch anzusehen, dass sich ihre Anwendung nur auf einige als „pflegesensitiv“ definierte Krankenhausbereiche beschränkt.

Es braucht wissenschaftlich fundierte Personalbemessungsinstrumente

Die Regelungsdichte der Pflegepersonaluntergrenzen ist enorm. Die Freiheitsgrade für eine flexible bedarfsgerechte Steuerung sind im Extremfall nicht vorhanden. Es sollte gut überlegt werden, in welchen Fällen ihre Aussetzung gerechtfertigt ist. Die Aussetzung darf nicht ohne Begründung erfolgen. Krankenhäuser, die kaum Corona-Patienten behandeln, sollten so etwa nicht von der Einhaltung der Untergrenzen befreit werden. Die Einführung wissenschaftlich fundierter Personalbemessungsinstrumente, die sich konkret am Bedarf der einzelnen Pflegeempfänger in den jeweiligen Einrichtungen und Kliniken orientieren und nicht mühelos ausgesetzt werden können, wäre weitaus effizienter als die Beibehaltung der Pflegepersonaluntergrenzen. 

Verschärft wird der Personalnotstand in der professionellen Pflege weiterhin dadurch, dass der Pflegeberuf bei jungen Menschen nicht die Attraktivität entfaltet, die dringend erforderlich ist, um ausreichend Pflegefachpersonen nachzurekrutieren. Eine Aufwertung des Pflegeberufs ist zwingend notwendig, um die massive Zahl von Abgängen der nächsten 15 Jahre auszugleichen. Mehr als ein Drittel aller Pflegefachpersonen wird bis 2035 in den Ruhestand gehen. Ursache sind die teilweise prekären Arbeitsbedingungen sowie die viel zu niedrig angesetzten Gehälter. Die wirklich positiven Aspekte des Pflegeberufes verstecken sich hinter diesem Bild und kommen nicht ausreichend zur Geltung. Nicht die einmalige Auszahlung von Sonderprämien in Krisensituationen, sondern eine für alle Pflegesettings geltende Vergütungsreform auf Grundlage eines Einstiegsgehaltes von 4.000 Euro ist für eine Aufwertung des Pflegeberufs essentiell. Die Umsetzung eines allgemein verbindlichen und flächendeckenden Tarifvertrags mit einer angemessenen Vergütung, die deutlich in Richtung von mindestens 4.000 Euro für vollzeitbeschäftigte Pflegefachpersonen zeigt, wäre hier ein erster wichtiger Schritt. 

Vereinbarkeit von Familie und Beruf gewährleisten

In den letzten Jahren spielte der finanzielle Aspekt für viele Pflegefachpersonen eine immer wichtigere Rolle. Daher hängen – wie auch in anderen Branchen - Lohngerechtigkeit und Wertschätzung im Pflegeberuf eng zusammen. Neben der Vergütungskomponente, die die Voraussetzungen dafür schaffen soll, dass der Pflegeberuf auch für junge Menschen als nachhaltig attraktiv wahrgenommen wird, spielen viele andere Faktoren eine wichtige Rolle, die im Wesentlichen durch eine stabile Personalisierung und gut ausgebildete und professionell handelnde Führungspersönlichkeiten aufrechterhalten werden können. Dazu gehört eine anständige Mitarbeiterführung, eine Dienstplanung, die beispielsweise auch Aspekte wie die Vereinbarkeit von Familie und Beruf gewährleistet, sowie gute und gesundheitsfördernde Rahmenbedingungen. Daneben muss der Pflegeberuf soweit aufgewertet werden, dass sich Berufsangehörige auch in der Öffentlichkeit als Teil eines hochprofessionellen Berufsstandes präsentieren können. Eine nachhaltige Anerkennung kann nur dann entstehen, wenn sich beruflich Pflegende auch selbst als solche anerkennen. Aufgrund ihrer generalistischen Grundkompetenz sind Pflegefachpersonen optimal dazu geeignet, die pflegeempfängerbezogene Versorgungssteuerung im Gesamtsystem zu übernehmen und entsprechende interprofessionelle Teams mit dem Ziel einer umfassenden qualitativ hochwertigen und bezahlbaren Versorgung zu koordinieren.

Im Duell „Gewinnorientierung versus öffentliche Daseinsvorsorge“ müssen auch Bund und Länder viel deutlicher Partei ergreifen. Schließlich ist es Aufgabe der Länder, die Investitionskosten der Krankenhäuser zu tragen. Da dieser Verpflichtung in vielen Fällen nicht nachgekommen wird, kommt es zu einer Unterversorgung und damit unter anderem zu einer Förderung der Privatisierung. Die öffentlich unterfinanzierten Kliniken werden als „nicht wirtschaftlich“ deklariert und an den erstbietenden Großkonzern verkauft. Folglich ist aus einem System, das ursprünglich für das gesundheitliche Wohlbefinden der Bevölkerung konstruiert wurde, ein System wirtschaftlicher Interessen geworden. Dieser Trend wird nur dann zu stoppen sein, wenn das gesamte Krankenhauswesen auf eine neue Basis gestellt wird. Eine Abkehr von der stark mengen- und ressourcenbezogenen Finanzierungsmaxime ist unabdingbar. Vorhaltung, die entsprechend ausfinanziert ist, ist eine wesentliche Voraussetzung für ein Gesundheitssystem, das flexibel auf alle zukünftigen Herausforderungen reagieren kann. Eine große Aufgabe für die deutsche Gesundheitspolitik in der nächsten Legislaturperiode des Deutschen Bundestages.

Der gelernte Gesundheits- und Krankenpfleger Dr. Markus Mai ist seit 2016 Präsident der Landespflegekammer Rheinland-Pfalz

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