Standpunkte Digitalisierung entbürokratisieren

Die Digitalisierung muss entbürokratisiert werden, damit sie das Gesundheitssystem entlasten kann, schreibt Cherry-Geschäftsführer Philip Groth. Bisher seien digitale Systeme zu wenig interoperabel, zu langsam und zu wenig nutzerfreundlich. Durch passende Regulatorik könnte sich das ändern.
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Jetzt kostenfrei testenDigitalisiert wird viel – entlastet wird wenig. So lässt sich die Bilanz der Digitalisierung im Gesundheitswesen bislang zusammenfassen. Zwar melden laut „Praxisbarometer 2024“ 31 Prozent der Praxen, sie hätten ihre Abläufe „zur Hälfte oder vollständig digitalisiert“ – doch Ärzt:innen verbringen weiterhin täglich etwa drei Stunden ihrer Arbeitszeit mit Dokumentation. Und obwohl mit KIM (Kommunikation im Medizinwesen) ein sicherer E-Mail-Dienst bereitsteht, versenden laut einer aktuellen Umfrage noch immer 43 Prozent der Praxen ihre Rezepte am liebsten per Fax.
Willkommen im digitalisierten Gesundheitswesen 2025, wo Technik vorhanden ist, Prozesse aber aus der Zeit gefallen scheinen. Die Gründe reichen von 1:1 digitalisierten Papierprozessen bis hin zu überkomplexen Zuständigkeiten und einer IT-Sicherheitsarchitektur, die Innovation eher verhindert als schützt.
Milliarden für Digitalisierung ohne viel Nutzen
Was jetzt gebraucht wird, ist nicht die nächste digitale Anwendung – sondern ein Umdenken: Digitalisierung darf kein Bürokratiemonster mehr sein. Sie muss vom Menschen her gedacht, durchdacht reguliert und konsequent entlastend gestaltet sein.
Die jahrzehntelangen Verzögerungen bei elektronischer Gesundheitskarte (eGK), elektronischer Patientenakte (ePA) und digitalen Rezepten sind hinlänglich dokumentiert. Erst mit der Umstellung vom Opt-in auf das Opt-out-Verfahren im Januar 2025 konnten rund 70 Millionen ePAs angelegt werden. Es zeigt sich: Erst wenn Digitalisierung den Menschen dient, wird sie relevant.
Alte Prozesse, neuer Aufwand
Die Digitalisierung im Gesundheitswesen kommt kaum voran, weil am Nutzen vorbei digitalisiert wird. Analoge Verfahren werden eins zu eins ins Digitale übertragen, ohne die zugrundeliegenden Prozesse neu zu denken. Statt Papierformulare per Fax zu verschicken, werden PDF-Dokumente per Mail oder gar über Messenger-Dienste übermittelt – der Medienbruch bleibt bestehen, die Datensicherheit profitiert nicht.
Ärzt:innen klagen, dass sie durch neue Dokumentations-Software mehr Klicks und höheren Zeitaufwand haben, weil alte Pflichten parallel weiterlaufen. So mussten Praxen bis vor kurzem digitale Krankmeldungen (eAU) nicht nur elektronisch an die Krankenkassen senden, sondern zusätzlich einen Ausdruck für die Patient:innen erzeugen – doppelter Aufwand ohne erkennbaren Nutzen. Und wenn Krankenkassen noch nicht an die Telematikinfrastruktur (TI) angeschlossen waren, ging die eAU per Post raus. Erkennen Sie ein Muster?
Warum Effizienzgewinne ausbleiben
Innovative Ansätze werden zudem durch überzogene Sicherheitsanforderungen und komplexe Zuständigkeiten ausgebremst. Lange Zeit galt in Deutschland das Paradigma: „maximale Datensicherheit – um jeden Preis“. Selbst praktikable Lösungen wurden dadurch verhindert.
Die Vorteile der Digitalisierung – bessere Vernetzung, Zeitersparnis, geringere Fehleranfälligkeit – sind kaum spürbar. Auch die Bundesregierung räumt ein: Digitale Systeme sind zu wenig interoperabel, zu langsam und zu wenig nutzerfreundlich – die Bürokratie muss reduziert werden. Erkenntnis: Digitalisierte Bürokratie ist keine Lösung. Was wir brauchen, ist eine entbürokratisierte Digitalisierung.
Probleme beim E-Rezept in Pflegeeinrichtungen
Ein aktuelles Beispiel für die Kluft zwischen Wunsch und Wirklichkeit ist das E-Rezept. Seit Januar 2024 sind Arztpraxen verpflichtet, Rezepte digital auszustellen. Doch in Pflegeheimen – wo besonders viele chronisch kranke Menschen betreut werden – sorgt das E-Rezept für Irritation.
Denn Pflegeeinrichtungen sind erst ab Juli 2025 verpflichtet, an die TI angeschlossen zu sein. Bis dahin bleibt das Papierrezept vielerorts Alltag. Von rund 12.000 stationären Pflegeheimen verfügen aktuell nur etwa 600 über einen TI-Zugang – ein drastisches Missverhältnis.
Praktische Hürden beim E-Rezept
Hinzu kommt eine weitere bürokratische Hürde: Ärzt:innen dürfen E-Rezepte nicht direkt an Apotheken übermitteln, weil das sogenannte Zuweisungs- bzw. Makelverbot dies untersagt. Die Verordnung muss entweder auf dem E-Rezept-Server abgelegt oder via KIM an das Pflegeheim geschickt werden – sofern es überhaupt digital angebunden ist. Ist das nicht der Fall, wird das Rezept samt Gesundheitskarte physisch vom Heim zur Apotheke gebracht.
Die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) fordert daher, mit Einwilligung der Patient:innen auch Direktübermittlungen zuzulassen – und dieses analoge Relikt zu überdenken. Das Beispiel zeigt: Die Technologie ist längst da – doch ohne Anpassung der Abläufe und Rahmenbedingungen läuft sie ins Leere.
Fehlentscheidungen bei TI-Konnektoren
Ein weiteres Lehrstück ist der Austausch der sogenannten Konnektoren, die Praxen und Kliniken an die TI anbinden. Etwa 130.000 Geräte mussten in kurzer Zeit ersetzt werden, weil ihre Sicherheitszertifikate abliefen. Der Chaos Computer Club und das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik hielten eine softwarebasierte Verlängerung für ausreichend sicher – dennoch wurde auf einem 300 Millionen Euro teuren Komplettaustausch bestanden. Das Ergebnis: ein ökologisch und ökonomisch zweifelhafter Haufen Elektroschrott.
Digitalisierung darf nicht länger bedeuten, analoge Prozesse einfach digital abzubilden. Sie muss bestehende Abläufe grundlegend hinterfragen.
Digitalisierung vom Menschen her denken
Ein Zukunftsbild: Beim Facharztbesuch haben Ärzt:innen mit einem Klick alle relevanten Vorbefunde aus der ePA vorliegen. Die eGK bestätigt am Terminal die Einwilligung zur Datenverarbeitung. Eine KI analysiert automatisch Medikationen und warnt vor Wechselwirkungen. Rückfragen ans Krankenhaus erfolgen über den TI-Messenger. Die Antwort landet strukturiert in der ePA. Das Rezept wird auf der eGK gespeichert und via CardLink-App an die Apotheke übermittelt. Selbst die Rückfahrt im Taxi wird per (noch nicht existentem) e-Transportschein digital organisiert. Papierlos, bruchlos, effizient, menschlich.
Am Ende gilt: Technik ist ein Werkzeug für Menschen. Prozesse müssen so gestaltet sein, dass Innovation möglich wird. Wenn wir die Digitalisierung entbürokratisieren, wird das Gesundheitssystem reell entlastet – zum Wohle derer, die es brauchen und derer, die darin arbeiten.
Dr. Philip Groth ist Geschäftsführer bei Cherry Digital Health, einem Produkthersteller für das Gesundheitswesen.
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