„Ärzte verschreiben Medikamente, von denen sie wenig wissen, für Krankheiten, von denen sie noch weniger wissen, für Menschen, von denen sie gar nichts wissen.“ – Dies schrieb im 18. Jahrhundert der französische Schriftsteller und Philosoph Voltaire. Heute ist das Verständnis vieler Krankheitsprozesse bis auf die molekulare Ebene verstanden und wir können den Wirkmechanismus der meisten Arzneimittel im Detail erklären. Wie aber wird dieses Wissen der Ärzteschaft vermittelt? Was wissen wir über den einzelnen Patienten und seinen Krankheitsverlauf? Ohne dieses Wissen wird die wohnortsnahe Gesundheitsversorgung für viele Patientinnen und Patienten unter ihren Möglichkeiten bleiben und der medizinische Fortschritt nicht auf die Bedürfnisse der einzelnen Person zugeschnitten werden können.
Stellen wir uns aber einmal vor, wir hätten eine Patientenversorgung, die mit jeder Behandlung für die nächste Behandlung dazulernt und täglich neues Wissen für die Forschung generiert. Wir würden Krankheitsverläufe mit jedem Tag besser verstehen. Wir hätten eines Tages vielleicht sogar eine medizinische Versorgung, die schwere Erkrankungen wie Krebs oder Multiple Sklerose nicht nur behandelt, sondern heilt und vielleicht sogar verhindert. Ist diese Vorstellung eine Utopie? Nein! Es ist die Zukunft der Gesundheitsversorgung, die uns das Zusammenspiel von moderner Diagnostik, hochpräziser Arzneimitteltherapie und Gesundheitsdaten heute bereits in Aussicht stellt. Ein Gesundheitssystem, in dem medizinisch-technischer Fortschritt dem Menschen dient.
Meilenstein mit Löchern
Über genau diese Zukunft wurde am 7. November 2019 im Deutschen Bundestag beraten: Das Digitale-Versorgung-Gesetz, kurz DVG, wurde verabschiedet. Herausgekommen sind Rahmenbedingungen, die helfen, dass Patientinnen und Patienten in Deutschland Zugang zu digitalen Anwendungen als Kassenleistung erhalten: Beispielsweise Online-Sprechstunden, aber auch Gesundheits-Apps, mit denen Patientinnen und Patienten zum Beispiel ihren individuellen Krankheitsverlauf kontinuierlich aufzeichnen können und so wichtige Erkenntnisse aus der Krankenversorgung generieren.
Ich wurde vor Kurzem gefragt, ob das DVG ein Meilenstein für unsere Gesellschaft oder doch nur ein kleiner Gruß aus der Küche des Gesetzgebers ist? Meine Antwort war: Leider beides. Ein Meilenstein ist der niedrigschwellige Zugang zu e-Health-Solutions. Bei der Frage, welche Anspruchsgruppen Zugang zu den anonymisierten Gesundheitsdaten zu Forschungszwecken haben, bleibt das Gesetz hingegen weit hinter seinen Möglichkeiten: Denn während beispielsweise Institutionen der Selbstverwaltung, Behörden oder Universitäten als Anspruchsgruppen definiert wurden, bleibt die forschende Gesundheitswirtschaft außen vor.
Forschungsstandort auf dem Spiel
Die forschende Gesundheitswirtschaft von diesem Datenschatz auszuschließen heißt, die Zukunft des Forschungsstandorts Deutschland aufs Spiel zu setzen und das Wertschöpfungspotenzial dieses bedeutsamen Wirtschaftszweiges zu ignorieren. Schlimmer noch, die Versichertengemeinschaft wird die neuen Technologien aus dem Ausland zukaufen, wo dann auch die Arbeitsplätze sind. Es ist das Wissen, das Können und die Bereitschaft, finanzielles und unternehmerisches Risiko einzugehen, das uns in die Lage versetzt, Tag für Tag an innovativen Gesundheitslösungen zu arbeiten, diese zu produzieren und in die medizinische Versorgung zu bringen. Datengestützte Gesundheitslösungen können aber nur im eigenen Land entwickelt werden, wenn unserer Industrie auch die Möglichkeit des Datenaustausches gegeben wird. Ich habe noch keine Behörde, Krankenkasse oder Institution der Selbstverwaltung gesehen, die wirklich marktfähige Produkte zur Krankenversorgung entwickelt hat. Auch Universitäten sind hier meist nur in Kooperation mit der forschenden Gesundheitswirtschaft erfolgreich.
Das DVG zeigt uns erneut, dass wir dringend ein Umdenken benötigen. Es ist an der Zeit, ideologisch gefärbte Ängste abzubauen und endlich das zu fördern, was das deutsche Gesundheitssystem so dringend braucht: Austausch und Vernetzung – und eine gemeinsame Strategie, die alle Beteiligten einbindet und den Nutzen für Patientinnen und Patienten in den Mittelpunkt rückt. Dass diese Vision bereits Realität ist, zeigt folgendes Beispiel aus den USA: Dort hat das Unternehmen Flatiron Health in enger Kooperation mit Kliniken, Arztpraxen, Forschungseinrichtungen, Patientinnen und Patienten sowie Gesundheitsbehörden innerhalb weniger Jahre eine Plattform etabliert, die Versorgungsdaten standardisiert erfasst, miteinander vernetzt und für Forschung und Versorgung nutzbar macht. Diese Informationen werden von Zulassungsbehörden, Kliniken, der Wissenschaft und den forschenden Gesundheitsunternehmen genutzt. Natürlich lässt sich dieses Beispiel nicht eins zu eins auf unser Gesundheitssystem übertragen – aber der Gesetzgeber sollte hierfür den Rahmen setzen.
Hagen Pfundner ist seit 2006 im Vorstand der Roche Pharma AG und Geschäftsführer der Roche Deutschland Holding GmbH. Für Roche ist der Professor seit 28 Jahren tätig. Pfundner ist zudem seit 2008 Vorstandsmitglied im Verband forschender Arzneimittelhersteller (vfa), dessen Vorstandsvorsitzender er von 2011 bis 2016 war.