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Standpunkte Gezielte Patientensteuerung für nachhaltige Versorgung

Garald Quitterer ist Präsident der Bayerischen Landesärztekammer
Garald Quitterer ist Präsident der Bayerischen Landesärztekammer Foto: BLÄK

Die Herausforderungen in der Patientensteuerung sind groß, schreibt Gerald Quitterer im Standpunkt. Dennoch könne sie die Effizienz und Qualität der Versorgung langfristig aufrechterhalten. Doch neben der gezielten Patientenlenkung sieht der Präsident der Bayerischen Landesärztekammer noch weitere Ansätze, um die zunehmende Versorgungslücke zu schließen.

von Gerald Quitterer

veröffentlicht am 11.10.2024

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Wir leben in einer politisch unruhigen und für die Ärzteschaft herausfordernden Zeit, in der einerseits die demografische Entwicklung und die Zunahme chronischer Erkrankungen, andererseits die ungesteuerte Inanspruchnahme unseres Gesundheitssystems die vorhandenen Ressourcen an die Grenze der Leistungsfähigkeit führt.

Das Paradoxon, dass es mehr Ärztinnen und Ärzte gibt, aber die Versorgungslücken immer größer werden, ist nichts Neues. Bedingt durch den demografischen Wandel und den bevorstehenden Eintritt der Baby-Boomer in den Ruhestand, wird das Gesundheitssystem in Deutschland zunehmend auf die Probe gestellt. 46 Prozent aller im Beruf tätigen Ärztinnen und Ärzte sind über 50 Jahre alt und im hausärztlichen Bereich beträgt der Anteil sogar 69 Prozent. Hinzu kommt der Trend zunehmender Arbeit in Teilzeit, vor allem unter jüngeren Ärztinnen und Ärzten.

Das abnehmende Angebot ärztlicher Versorgung trifft auf den größten gesellschaftlichen Umbruch der jüngeren deutschen Geschichte. Sehenden Auges: In den nächsten 15 Jahren gehen in Deutschland fast 13 Millionen Menschen in Rente. Wegen der immer älter werdenden Gesellschaft steigt der Versorgungsbedarf kontinuierlich an, nicht zuletzt auch aufgrund der zu erwartenden gesundheitlichen Folgen des Klimawandels.

Lösungen: mehr Medizinstudienplätze und bessere Patientenlenkung

Dass wir zur Sicherstellung der Versorgung zusätzliche Medizinstudienplätze und dabei auch Vorabquoten mit definierten, von der Abiturnote unabhängigen Kriterien für die Studienplatzvergabe benötigen, ist nachvollziehbar. Allein in Westdeutschland gab es 1990 ungefähr so viele wie heute in der ganzen Republik. Über die Zeit wurde es jedoch versäumt, ausreichend Medizinstudienplätze zu schaffen, um dem prognostizierten Versorgungsengpass stärker entgegenzuwirken.

Es heißt nun also auch, das bestehende System effizienter zu gestalten, die Patientenlenkung zu koordinieren und zu optimieren sowie Arbeitszeitpotenziale, beispielsweise durch ein verbessertes Angebot bei der Kinderbetreuung oder beim beruflichen Wiedereinstieg zu heben. Die Ärztinnen und Ärzte sowie andere Gesundheitsfachberufe arbeiten schon jetzt an der Belastungsgrenze. Zum wachsenden Bedarf kommt erschwerend hinzu, dass derzeit kaum ein gesteuerter Zugang zu den relevanten Versorgungsebenen stattfindet. Wir können uns jedoch die unstrukturierte Inanspruchnahme der begrenzten ärztlichen Ressourcen nicht länger leisten.

Gebühren für No-Shows in Praxen

Ein Ansatz, der seit langem kontrovers diskutiert wird, ist die Einführung von Gebühren für sogenannte „No-Show“–Patienten, die ohne Absage nicht zu ihrem Termin erscheinen. Zeit, die Ärztinnen und Ärzte in leeren Behandlungsräumen verbringen, könnte viel sinnvoller genutzt werden – zum Beispiel um Patienten zu behandeln, die dringend auf einen Termin warten. Die Verschwendung von Ressourcen durch nicht wahrgenommene Termine ist ärgerlich und entzieht dem Gesundheitssystem wertvolle Kapazitäten. Angesichts der steigenden Nachfrage und begrenzter Ressourcen ist es nicht hinnehmbar, dass Ärztinnen und Ärzte große Anstrengungen unternehmen, Termine bereitzustellen, auch über die Terminservicestellen, die dann ungenutzt bleiben. Angesichts einer No-Show-Rate bis zu zehn Prozent halte ich diesen Vorschlag für durchaus diskussionswürdig.

Viel wichtiger ist es aber, ein umfassendes System zur Steuerung und Koordination von Patientinnen und Patienten zu etablieren. Dies betrifft vor allem den Zugang zur Regelversorgung und zur Notfallversorgung. Hier müssen wir sicherstellen, dass Patienten dorthin geleitet werden, wo sie am besten aufgehoben sind. Eine validierte, standardisierte Ersteinschätzung könnte helfen, den Weg durch das Gesundheitssystem zu erleichtern und unnötige Kontakte, insbesondere in Notaufnahmen, zu reduzieren.

Gezielte Patientensteuerung und bessere Gesundheitskompetenzen

Das System, wie wir es heute kennen, ist überlastet und ohne eine gezielte Steuerung nicht nachhaltig. Eine wirksame Patientensteuerung gelingt nur, wenn wir die ärztliche Primärversorgung umsetzen – wie sie im Leitantrag beim vergangenen Deutschen Ärztetag gefordert wurde und wie sie auch in anderen Ländern Effekte zeigt.

Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Förderung der Gesundheitskompetenz. Menschen müssen besser informiert sein, wann und warum sie medizinische Hilfe benötigen und wann es möglicherweise ausreicht, sich selbst zu versorgen.

Der Staat ist hier gefragt, entsprechende Maßnahmen zu fördern, sei es durch Gesundheitsunterricht in Schulen oder durch klare Regularien zur Eindämmung ungesunder Lebensweisen, wie beispielsweise mit Werbeverboten für ungesunde Lebensmittel oder Rauchverboten. Hier kann auch nicht ein Gesundes-Herz-Gesetz Abhilfe schaffen: Die vorwiegend auf die Verordnung von Medikamenten fokussierten Ansätze konterkarieren die eigentliche Zielsetzung, die individuelle Gesundheitskompetenz zu verbessern und für möglichst gesundheitsfördernde Lebensbedingungen zu sorgen.

Forderung nach Entbudgetierung

Was wir dringend brauchen ist eine wirksame Förderung der Niederlassung, den Erhalt der ambulanten Versorgung durch Haus-, Kinder- und Fachärzteschaft: Dazu gehört die Entbudgetierung genauso wie finanzielle Förderung für Aus- und Weiterbildung. Ein Versorgungsstärkungsgesetz wird seinen Ansprüchen nur dann gerecht, wenn es die Rahmenbedingungen für niedergelassene Ärztinnen und Ärzte wirksam und nachhaltig verbessert, statt unnötige parallele Versorgungsebenen zu fördern.

Die Herausforderungen in der Patientensteuerung sind groß, doch sie bieten auch Chancen. Indem wir auf nachhaltige Lösungen, wie die ärztliche Primärversorgung und hier auch die Versorgung im Praxisteam und interprofessionell, setzen und die Gesundheitskompetenz der Bevölkerung fördern, können wir die Effizienz und Qualität der Versorgung langfristig aufrechterhalten. Eine effiziente Steuerung und Koordination sind das A und O eines zukunftsfähigen Gesundheitssystems. Es ist an der Zeit, dass wir uns dieser Aufgabe mit Nachdruck widmen und Lösungen weiterentwickeln, die auf Prävention, Aufklärung und gezielte Steuerung setzen – im Sinne der Patientinnen und Patienten und im Interesse einer stabilen und flächendeckenden Gesundheitsversorgung.

Gerald Quitterer ist Präsident der Bayerischen Landesärztekammer und Facharzt für Allgemeinmedizin.

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