Es ist eigentlich eine gute Nachricht: Lange ist an seltenen Erkrankungen wenig geforscht worden, lange war die Gentherapie mehr Versprechen als Realität, und nun endlich sehen wir einen ersten echten Erfolg. Mit Zolgensma gibt es seit letztem Jahr ein gentherapeutisch wirksames Medikament, das bei der Behandlung der spinalen Muskelatrophie (SMA) sehr gute Ergebnisse zeigt. Kinder, die an der früh einsetzenden Form der SMA leiden, werden ohne Therapie nicht älter als zwei Jahre. Die Muskelschwäche, zu der die Krankheit führt, bewirkt, dass die Kinder nicht ihren Kopf nicht halten und nicht sitzen können. Zum Schluss versagt auch die Atemmuskulatur. Erste Studien zeigen, dass Zolgensma diesen Abbauprozess stoppen kann. Einige der Kinder, an denen das Medikament erprobt worden ist, haben zum Teil sogar laufen gelernt. Ähnlich wirksam ist zwar auch ein anderes, seit 2017 auf dem Markt befindliches Medikament. Spinraza muss aber alle vier Monate aufwändig per Injektion in den Wirbelkanal der Lendenwirbel gegeben werden, Zolgensma wird nur einmal intravenös verabreicht. Seit Mitte 2019 ist Zolgensma in den USA von der FDA zugelassen. In Europa wird mit der Zulassung im Frühjahr 2020 gerechnet.
Eine rundum schöne Geschichte also? Nicht ganz. Denn die Einführung von Zolgensma durch den Hersteller Novartis ist leider auch ein Beispiel dafür, dass auf dem Weg von den klinischen Studien bis zur Zulassung und Kostenübernahme durch die Krankenkassen noch nicht alles so abläuft, wie man sich das wünschen würde.
Wenn sich ein Medikament in Studien sehr gut bewährt, dann kann es Patientinnen und Patienten schon vor der Zulassung zur Verfügung gestellt werden. Das Instrument dazu heißt Härtefallprogramm und ist im Arzneimittelgesetz beschrieben. Novartis hätte für Zolgensma diese Härtefallregelung beantragen können, hat das aber nicht getan. Man strebe eine international einheitliche Vorgehensweise an, hieß es. International ist das deutsche Härtefallprogramm als „compassionate use“ bekannt. Man hätte also eine Initiative von Novartis unter diesem Label und diesen Regeln folgend erwarten können. Dazu kam es nicht.
Umgehung ist zynisch
Stattdessen verlost der Hersteller nun weltweit insgesamt 100 Einzeldosen des Medikaments. Gleichzeitig haben seit letztem Jahr in Deutschland Eltern versucht, die Kostenübernahme für die Behandlung ihrer Kinder vor Gericht und mit medialer Unterstützung zu erstreiten. Einige Kassen haben sich daraufhin zur Kostenübernahme bereit erklärt. Es gehört zu diesem Teil der Geschichte dazu, dass Novartis das Medikament in den USA zum Preis von gut zwei Millionen Dollar pro Dosis verkauft. Wird ein Medikament dagegen im Rahmen des Härtefallprogramms abgegeben, trägt der Hersteller die Kosten, so wie der Hersteller auch im Rahmen klinischer Studien die Medikamentenkosten selbst trägt.
Die Umgehung des Härtefallprogramms und die Einführung des Losverfahrens sind ein zynisches Spiel mit den Hoffnungen von betroffenen Eltern. Es ist legitim, dass sich ein pharmazeutisches Unternehmen um seine Verdienstmöglichkeiten sorgt. Und vermutlich wird die Schnittstelle zwischen privat- und marktwirtschaftlich organisierter Forschung auf der einen Seite und gesellschaftlicher Kostenübernahme auf der anderen Seite nie ganz spannungsfrei sein können. Aber es darf nicht sein, dass Hersteller etablierte Regelungen zur Medikamentenabgabe zum eigenen Nutzen so einfach umgehen können. Hier muss eine Regelungslücke geschlossen werden. Zum Beispiel so: Man ermöglicht, dass nicht nur der Hersteller, sondern auch Ärztinnen und Ärzte die Härtefallregelung beantragen können. Im Gegenzug werden die Kosten dann anteilig von den Kassen mitgetragen - eine einigermaßen akzeptable initiale Preisfestsetzung vorausgesetzt.
Joachim Boldt, ist promovierter Philosoph und stellvertretender Direktor des Instituts für Ethik und Geschichte der Medizin, Universität Freiburg.