Der Bundesgesetzgeber hat zur Einführung der Tariftreueregelung im Sommer 2021 den Fortbestand der Versorgungsverträge mit Pflegediensten und Pflegeheimen an die Bezahlung von Tariflöhnen gekoppelt. Alternativ kann ein so genanntes regionalübliches Entgelt bezahlt werden. Wie letzteres ermittelt wird, ist und bleibt eine Black-Box. Laut Gesetzgeber soll damit ein Mittelwert der nach Tariflöhnen ermittelten Gehaltsgrößen abgebildet werden. Allerdings übertrifft das regional übliche Entgelt in vielen Bundesländern die Gehaltshöhen der Tarifverträge, was dem Ansatz eines Mittel- oder Durchschnittswerts widerspricht.
Mit der Einführung des §82c Abs. 1 und Abs. 2 im SGB XI hat der Gesetzgeber zudem eine unmissverständliche Festlegung getroffen: gesetzlich vorgegeben steigen die Gehälter der Mitarbeitende in der Pflege und Betreuung ab dem 1. September 2022. Damit sind die Pflegekassen verpflichtet, die höheren Kosten entsprechend zu refinanzieren – sprich die Pflegesätze so anzuerkennen, dass die erheblich steigenden Personalkosten gedeckt werden. Genau diese Verpflichtung musste der Gesetzgeber nochmals in §82c SGB XI formulieren, da die bisherigen Vorgaben, dass Tariflöhne in den Pflegesatzverhandlungen als wirtschaftlich anzuerkennen sind, regelhaft bei privaten Anbietern unterlaufen wurde. Die von den Pflegeeinrichtungen gewollten höheren Gehälter für Pflege- und Betreuungskräfte wurden seitens der Pflegekassen nicht anerkannt und somit nicht finanziert. Oder anders: die gewollten steigenden Vergütungen für diese Beschäftigten scheiterten an den Pflegekassen – nicht an den Pflegeeinrichtungen.
Leistungsverdichtung statt Verbesserungen
Dieses Spiel wiederholt sich nun erneut, trotz erneuter gesetzlicher Festlegung. Die Tariftreueregelungen führen zu Personalkostensteigerungen von bis zu 35 Prozent. In keiner anderen Branche kommt es zu solchen Steigerungen. Jedem der Verantwortlichen in den Ministerien (Bund und Länder), den Pflegekassen und der Politik muss klar sein, dass dies kein Pflegedienst und kein Pflegeheim ohne eine entsprechende Refinanzierung bezahlen kann. Aber genau dieser einfachen Erkenntnis widersprechen die Pflegekassen, gerade in den Flächenländern Nordrhein-Westfalen, Bayern und Baden-Württemberg. Angebote von zwei bis fünf Prozent Pflegesatzsteigerung decken diese Mehrkosten nicht annähernd. Bei unzureichender Finanzierung droht die Insolvenz und damit Schließung des Pflegeangebots, was schon jetzt beobachtbar ist.
Gerade Pflege- und Betreuungsdienste, die zeitintensive, stundenweise Versorgungen erbringen, werden durch unzureichende Vergütungserhöhungen in der Existenz gefährdet. Denn in den Augen vieler Pflegekassen bietet das „klassische“ Preismodell von Leistungs-Paket-Preisen die Möglichkeit, durch Leistungsverdichtung die Personalmehrkosten aufzufangen. Leistungsverdichtung bedeutet, dass eine Versorgung von beispielsweise 20 Minuten auf 15 Minuten (und ggf. sogar noch weniger) gekürzt wird. Die Pflegemitarbeitenden müssen daher schneller arbeiten, um die eigene Gehaltssteigerung „zu verdienen“. Die Regelungen des Tariftreuegesetzes wurden geschaffen, um durch eine massive Steigerung der Gehälter der Pflege-Mitarbeitenden den Beruf attraktiver zu machen. Wenn jedoch eine Leistungsverdichtung die Antwort auf mehr Gehalt ist, wird die Attraktivität abnehmen.
Kosten tragen die Pflegebedürftigen
Ambulante Pflege- und Betreuungsdienste mit stundenweiser Versorgung rechnen nach Zeit ab. 60 Minuten bleiben 60 Minuten. Die sind auch den Mitarbeitenden nach dem Arbeitsrecht eins-zu-ein zu vergüten – auch mit den steigenden Gehältern. Eine von den Pflegekassen immer wieder geforderte Leistungsverdichtung kann dabei nicht erfolgen.
Nach den Jubelrufen der Tariftreue, die wahrscheinlich am 1. September von den beiden Ministern Lauterbach und Heil sowie anderen Politikern wiederholt werden, müssen die Pflegebedürftigen nun erkennen, dass sie die daraus entstehenden Mehrkosten eins-zu-eins selbst bezahlen. Das verschweigen Politik und Pflegekassen und versuchen, durch die Blockade höherer Pflegesätze die Wirkungen zu verzögern bzw. abzuschwächen. Dabei gefährden sie aber die Versorgungssicherheit von Menschen mit Pflegebedarf massiv. Allein bei den Anbietern der zeitintensiven, nach Stundenleistungen abrechnenden ambulanten Dienstleister sind von diesen Entwicklungen bis zu 50.000 pflegebdürftige Menschen gefährdet. Es bedarf somit einer schnellen Anpassung der Pflegesätze damit einerseits die höheren Löhne bezahlt werden und anderseits die Versorgung sichergestellt werden kann. Auch braucht es eine erhebliche Anhebung der Sachleistungsbudgets, ansonsten bleiben die Pflegebedürftigen auf den massiven Mehrkosten sitzen. Was die Politik bestellt, muss sie auch bezahlen.
Thomas Eisenreich ist Geschäftsführer des Bundesverbands der Betreuungsdienste e.V.