Vor einem Jahr habe ich 2023 zum Jahr der Entscheidung in der Gesundheitspolitik erklärt. Ich hatte geschrieben, dass angesichts der massiven und für alle Patienten spürbaren Probleme – überfüllte Praxen, Chaos in den Notaufnahmen, Lücken in der Medikamentenversorgung – dem Jahr 2023 die Funktion einer grundsätzlichen Weichenstellung zukommen würde. Entweder, zentrale Reformprojekte würden umgesetzt, oder das Gesundheitssystem würde unweigerlich schweren Schaden nehmen und seine Zukunftsfähigkeit verlieren.
In der Tat, spürbar passiert ist wenig, auch ein Jahr später erscheint die Lage höchst angespannt: Die Probleme in der Patientenversorgung bestehen fort, die Deutsche Krankenhausgesellschaft warnt vor einem Massensterben von Kliniken, Arztpraxen sind streikbedingt geschlossen, auch die Apotheker gehen auf die Barrikaden. Insbesondere die letzten Beispiele zeigen: Der Verteilungskampf um die zusehends limitierten Finanzmittel im Gesundheitssystem ist im vollen Gange. Und es würde absolut dem Zeitgeist entsprechen, nunmehr resigniert und mit dem mittlerweile unverzichtbaren Sarkasmus auszuführen, dass alle verhallten Warnungen endgültig dazu führen werden, dass unser Gesundheitssystem seine Abwärtsspirale ungebremst fortsetzt.
Aber ich möchte Gegenrede leisten. Denn die Grenzen im Gesundheitssystem, vor allem aber auch die Blockaden in den Köpfen der handelnden Akteure, beginnen aufzuweichen, diese Erfahrung mache ich zusehends. Und sei es auch nur aus der Erkenntnis heraus, dass eine neue Zeit neue Antworten erfordert. Nach wie vor übertrifft die Dynamik der Probleme die Dynamik der Lösungen bei weitem. Aber die zementierte Statik des Gesundheitssystems kommt endlich in Bewegung, der Mehltau wird Schicht für Schicht weggeblasen
Digitalisierung als Hoffnungsschimmer
Noch wird die aktuelle Diskussion stark von der auf Eis liegen Krankenhausreform geprägt, wiewohl nicht übersehen werden darf, dass etwa in Nordrhein-Westfalen durch Minister Laumann Tempo in das Thema kam und weiter kommt, auch wenn die dringend notwendige bundesweite Lösung – die zwingend mit einer sinnvollen Reduzierung von Krankenhausbetten einhergehen muss – noch auf sich warten lässt.
Aber es gibt eben auch viele positive Hoffnungsschimmer: Seit dem 1. Januar sind Ärzte dazu angehalten, ausschließlich E-Rezepte auszustellen. Mit dem kurz vor Weihnachten verabschiedeten Gesundheitsdatennutzungsgesetz (GDNG) können künftig Gesundheitsdaten für Forschung und Entwicklung einfacher erschlossen werden und damit zu einer besseren medizinischen Versorgung beitragen. Vor allem wird aber die in einem Jahr startende elektronische Patientenakte nicht nur die medizinische Versorgung insbesondere im Hinblick auf die Patientensicherheit auf ein neues Niveau heben, sondern auch die Effizienz des Gesundheitssystems signifikant steigern. Diese Erfahrung machen nicht nur andere Länder, sondern auch wir in deutlich kleinerem Rahmen an der Universitätsmedizin Essen.
Natürlich fehlt vielen Aktivitäten noch eine strategische Verbindung, sie wirken teils zusammenhanglos, das hochkomplexe Gesundheitssystem in Gänze wartet noch auf eine stringente Zukunftsausrichtung. Aber dennoch ist der Willen zur Umgestaltung, zur konkreten Reform, auch zur Digitalisierung unverkennbar. Diese zarten Pflänzchen mögen für viele Betrachter marginal erscheinen. Im über Jahrzehnte erstarrten Gesundheitssystem jedoch kann dieser „Wind of Change“ gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Es wird also Zeit, die Weltuntergangsstimmung abzulegen und nach vorne zu blicken. Im Jahr 2023 hat erstmals der Anteil der erneuerbaren Energien am Stromverbrauch in Deutschland über 50 Prozent gelegen. Dieser bahnbrechende Erfolg, dieser große Fortschritt ist aus meiner Sicht in der öffentlichen Diskussion völlig untergegangen. Er zeigt, dass große positive Umgestaltungen allen Unkenrufen zum Trotz auch in Deutschland noch möglich sind.
Beharrliche Verbesserung
Und wir dürfen nicht vergessen: Mit der Künstlichen Intelligenz gewinnen wir zunehmend eine wesentliche Ressource für die Problemlösung im Gesundheitswesen hinzu. KI wird nicht nur die medizinische Versorgung besser machen, sondern auch – und das ist vielleicht sogar noch bedeutsamer – die Effizienz des Gesundheitssystems und der administrativen Prozesse perspektivisch steigern, auf nationaler Ebene, aber in der kommenden Ausbaustufe auch in den Kliniken und Praxen, davon bin ich überzeugt.
Für 2024 wünsche ich mir für die Gesundheitspolitik eine weitere Verzahnung und den konstruktiven Austausch aller handelnden Akteure. Weiterhin die Abwendung unkontrollierbarer Fehlentwicklungen wie der ungeordneten Insolvenz von Kliniken, gleichermaßen, aber auch kein weiteres Geld für das Stopfen von Löchern ohne begleitende Strukturreformen, welchen Bereich es auch immer betrifft.
Wir brauchen also für 2024 keine selbsternannten Revolutionen. Sondern wir brauchen etwas, in dem wir Deutsche von unserer Mentalität her eigentlich stark sind, nämlich die beharrliche, kontinuierliche Verbesserung der Situation im Gesundheitswesen. Insofern gehe ich zuversichtlich in das neue Jahr. Nicht mit Naivität. Aber der begründeten Perspektive, dass gesunder Pragmatismus und konkrete handwerkliche Lösungen die Oberhand behalten gegen die grassierende Mut- und Hoffnungslosigkeit.
Professor Dr. Jochen A. Werner ist Ärztlicher Direktor und Vorstandsvorsitzender der Universitätsmedizin Essen.