Was ist wirklich wichtig im Leben? Wenn man Menschen diese Frage stellt, kommen sicherlich mehrere Antworten in Betracht: Eine intakte Partnerschaft beispielsweise, die Bedeutung von Familie oder guten Freunden, gerade in schwierigen Phasen des Lebens. Ein Thema ist jedoch immer dabei: Gesundheit. Gerade Kranke, Genesene, auch ältere Menschen wissen um den unermesslichen Wert von Gesundheit und Wohlbefinden. Oder wie ein Sprichwort sagt: Wenn man gesund ist, hat man viele Probleme. Wenn man krank ist, nur noch eins. Bei einer solchen Befragung kommen garantiert nicht vor: Wärmepumpen, Flüchtlingspolitik, Inflationsrate oder Mobilität.
Was ich damit sagen will? Ich bin – gerade vor dem Hintergrund des demografischen Wandels und einer spürbar alternden Gesellschaft – mit jedem Tag mehr erstaunt, wie wenig dieses für alle Menschen, aber auch für unsere Gesellschaft und die Sozialsysteme existenzielle Thema in der öffentlichen Diskussion auftaucht. Von Maybrit Illner über Markus Lanz, Sandra Maischberger bis Anne Will: Überall die immer gleichen, häufig wiederkehrenden Themen. Dies soll weiß Gott kein Vorwurf an die verantwortlichen Redakteure sein, suchen diese doch ihre Themen und Gesprächspartner nach tatsächlichen – oder vermuteten – Attraktivitätskriterien vor dem Hintergrund einer möglichst guten Einschaltquote aus. Es ist vielmehr ein Abbild unserer Gesellschaft: Die Ignoranz gegenüber gesundheitspolitischen Themen zeigt für mich vielmehr, dass die Brisanz dieses zugegebenermaßen sperrigen Themas noch nicht einmal im Ansatz erkannt worden ist. Wenn es um die Schließung der Geburtenstation eines kleinen Krankenhauses am Rande der Stadt geht, ist das Geschrei und die Aufmerksamkeit groß. Wenn es um die strukturellen Rahmenbedingungen geht, die für diese Entwicklung verantwortlich sind, erlebe ich hingegen die mediale Diaspora.
Hauruck-Maßnahmen bringen wenig
Tatsache ist jedoch: Dies wird sich ändern. Und zwar nicht, weil über Nacht die Attraktivität des Themas entdeckt wird. Da mache ich mir keine Illusionen. Sondern weil der Handlungsdruck so groß werden wird, dass es schon bald nicht mehr gelingt, die Relevanz der Gesundheitspolitik für die Stabilität unserer Gesellschaft und vielleicht sogar die Akzeptanz der Demokratie auszublenden. Die sich bereits jetzt abzeichnenden Probleme in der Krankenversorgung – und auch deren Finanzierung – werden den Alltag der Menschen in einer Art und Weise bestimmen und belasten, dass dies einfach nicht mehr ignoriert werden kann. Die überlasteten Notaufnahmen, die mangelhafte Medikamentenversorgung oder die kritische Situation auf vielen Kinderstationen waren rund um die Jahreswende ein Thema. Nach der zumindest vorübergehenden Entspannung ist das Thema nunmehr flugs aus den Nachrichten verschwunden.
Eine tiefere Analyse der Ursachen oder gar eine strukturierte Aufarbeitung fand nicht statt. Vor einigen Wochen forderte Andreas Gassen, Vorstandsvorsitzender der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, eine Strafgebühr für unrechtmäßig in Anspruch genommene Notaufnahmen. Ich will den guten Willen von Herrn Gassen gar nicht in Abrede stellen. Aber dennoch wirkte dieser Vorschlag für mich als Akt der Verzweiflung, denn strukturelle Versäumnisse können nicht durch Hauruck-Maßnahme kompensiert werden. Was kommt als Nächstes? Die Rationierung von Medikamenten? Die Kostendeckelung bei schweren Krankheiten? Das alles kann keiner wollen.
Verschleppte Reformen
Ich bin überhaupt kein Apologet der Katastrophe, ganz im Gegenteil. Ich bin der tiefen Überzeugung, dass sich etwas zum Positiven ändern kann. Allerdings bin ich auch der Überzeugung, dass sich etwas ändern muss. Vieles in der aktuellen Situation in der Gesundheitspolitik erinnert mich an andere Themenfelder, den Zustand der Bundeswehr etwa oder die verschlissene Verkehrsinfrastruktur. Überall dort kämpfen wir heute mit viel Geld gegen massive Versäumnisse der Vergangenheit. Dabei hätten wir es viel einfacher und auch viel billiger haben können. Jedoch war Tatenlosigkeit gerade bei schwierigen und unangenehmen Themen lange, viel zu lange Leitgedanke der deutschen Politik.
Das beste Beispiel für verschleppte Reformen ist für mich die aktuelle Diskussion zur Energie- und Klimapolitik. Man kann je nach persönlicher politischer Ausrichtung trefflich darüber diskutieren, ob die von der Ampel-Koalition beschlossenen Maßnahmen zum Heizungstausch und zur energetischen Sanierung von Gebäuden eine überzogene Politik mit der Brechstange ist oder eine längst überfällige, konkrete Gesetzgebung zur Erreichung der Klimaziele. Nicht diskutieren kann man darüber, dass wir hier die Konsequenz langjähriger Tatenlosigkeit erleben. Gerade in der Klimapolitik wurden nicht erreichte Ziele gerne dadurch kompensiert, dass man die Zielprojektion angehoben, dafür aber den Zeitpunkt immer weiter in die Zukunft verschoben hat. So wurde das Delta zwischen Anspruch und Wirklichkeit kosmetisch geschlossen, während in der Realität wenig bis nichts passierte. Die Diskussion um erneuerbare Energien und Wärmepumpen zeigt: Ähnlich durchgreifende Schritte vor zehn oder fünf Jahren hätten den angestrebten Effekt deutlich früher, preiswerter, mit einem längeren Zeithorizont und mehr gesellschaftlicher Akzeptanz erreicht.
Die mindestens ebenso komplexe, mit jährlich über 470 Milliarden Euro operierende Gesundheitswirtschaft sollte daher gewarnt sein. Denn wie der Klimawandel, so ist auch der demografische Wandel eine enorme Herausforderung für eine zukunftsfeste und finanzierbare Gesundheitsversorgung. Es ist keine weit entfernte Fiktion, sondern Tag für Tag mehr Realität. Das Zeitfenster für nachhaltige Lösungen wird zusehends kleiner. Wenn wir es nicht schaffen, auf Grundlage einer weitgehend unstrittigen Analyse die notwendigen und längst überfälligen Strukturmaßnahmen im Gesundheitssystem endlich umzusetzen – Digitalisierung, zukunftsfeste Krankenhauslandschaft, bessere Verzahnung der Leistungserbringer und Telemedizin – werden die gleichsam disruptiven Maßnahmen in der Klimapolitik, aus der Not geboren und von detaillierter Planung entfernt, auch zum Standard in der Gesundheitspolitik. Und eines sei noch festgestellt. Die erwähnten dringend erforderlichen Schritte zur Konsolidierung und auch Weiterentwicklung unseres Gesundheitswesens werden sehr viel Geld kosten, weswegen ich meine Forderung nach einem ausreichenden Sondervermögen Gesundheit wiederhole. Das Verhalten des Bundesfinanzministers auf der einen und die von ihm offenbar wahrgenommene Wirkungskraft des Bundesgesundheitsministers auf der anderen Seite schüren die Sorge, das notwendige Finanzpaket für unser wichtigstes Gut, die Gesundheit, könnte ausbleiben.
Prof. Dr. Jochen A. Werner ist Ärztlicher Direktor und Vorstandsvorsitzender
der Universitätsmedizin Essen.