Wer treibt die Digitalisierung in Deutschland im Gesundheitswesen? Anstatt darüber zu klagen, wie schlecht unsere digitale Infrastruktur ist und wie wenig Menschen hierzulande digitale Technologien nutzen, sollten wir aktiv werden. Apologeten des Untergangs und der fehlenden internationalen Wettbewerbsfähigkeit durch das Verschlafen von Zukunftstechnologien gibt es viele. Und sie haben in weiten Teilen recht. Aber das moderne Wehklagen und Benennen von Defiziten ist keine Digitalisierung. Es gibt unzählige desillusionierende Kommentare und Zustandsbeschreibungen. Was aber fehlt, sind klare Strategien, Visionen, Mut und der nötige Enthusiasmus für die Veränderung.
Auf Impulse durch die Politik sollten wir nicht warten. So wurde die ohnehin schon bescheidene Summe von 377 Millionen Euro für den Ausbau der digitalen Infrastruktur bei den Behörden im kommenden Jahr auf 3,3 Millionen gestutzt. Für eine solch ‚bedeutsame‘ Neuverschuldung setzt der Bund gerade einmal eine Viertelstunde an.
Innovation von unten nach oben
Den Weg gehen, also ‚Digitalisierung machen‘ müssen andere. Und zwar die Akteure selbst. Für das Gesundheitswesen als zentraler Bestandteil der Daseinsvorsorge bedeutet dies: Obwohl die Gesundheitspolitik Rahmenbedingungen schaffen kann, wird innovative Medizin, die Patientinnen und Patienten sowie Beschäftigten nutzt, nicht durch politische Maßnahmen geschaffen, sondern durch Kooperationen, gemeinsame Projekte und Initiativen. So wurde an der Universitätsmedizin Essen zum Beispiel in Eigenregie der Transplantationschirurgie eine KI-Lösung zur Segmentierung von Spenderlebern entwickelt. Vor einer Transplantation wird am Rechner vermessen, wie groß die Leber des Spenders nach der Transplantation noch ist. Geschulte Radiologen brauchen dafür 20 Minuten oder länger. Die Software schafft das binnen drei Sekunden mit einer unfassbar hohen Präzision.
Die gute Nachricht ist: Die entsprechenden Player gibt es in Deutschland. Vorreiter der Digitalisierung auf Klinik-Ebene ebenso wie Top-Konzerne in der Industrie, die bereit sind, die digitale Entwicklung zu fördern. Sie brauchen aber auch Freiraum, um Lösungen für das deutsche Gesundheitssystem von morgen zu entwickeln. Viele Durchbrüche in der Medizin, die heute aus der Gesundheitsversorgung nicht mehr wegzudenken sind, sind das Resultat einer solchen oder zumindest einer ähnlichen Kooperation von Institutionen und Privatunternehmen mit dem gemeinsamen Willen zum Fortschritt.
Lange Tradition von Behandlungsrevolutionen aus der Industrie
In den 1970er Jahren erkannten Wissenschaftler das Potenzial der kernmagnetischen Resonanz zur Erstellung von Bildern des menschlichen Körpers. Große Unternehmen – allen voran Siemens – halfen dabei, die Geräte für den klinischen Einsatz zu optimieren, die Technologie zu validieren, zu verbessern und allen verfügbar zu machen. Der Rest ist Geschichte. Die Magnetresonanztomografie (MRT) hat die medizinische Bildgebung revolutioniert und ist heute ein unverzichtbares Werkzeug in der Diagnostik.
Wir haben in Deutschland die Expertise und die Kompetenz, unser – noch – gutes Gesundheitssystem durch Kooperationen und strategische Partnerschaften aus eigener Kraft digital, zukunftsfähig und vor allem menschenfreundlich zu gestalten. Kliniken verfügen über wichtige Daten von Patientinnen und Patienten sowie über Erfahrungen im Alltag. Konzerne haben die richtigen Ressourcen und Technologien, Start-ups innovative Ideen. Beste Voraussetzungen für eine funktionierende digitale Infrastruktur, die auch als Vorbild für andere Industrien dienen kann. Entscheidend ist dabei: Wir müssen diese digitale Infrastruktur zwingend einfordern und dann dafür aber auch Ressourcen bereitstellen. Solange wir lieber Pauschalen für analoge und leerstehende Betten diskutieren oder Serverräume in Forschungsdatenzentren einzeln physisch aufbauen, statt digital unterstützte, vernetzte Medizin zu fördern und Datenräume in der Cloud zu schaffen, bleiben wir in einem Gesundheitssystem der 1980er-Jahre stecken. Und das ist genau das Gegenteil von moderner, menschlicherer Medizin.
Berührungsängste und Datenschutzhindernisse abbauen
Die sinnvolle Nutzung und der Ausbau der gigantischen Möglichkeiten der Künstlichen Intelligenz ist dafür ein Paradebeispiel. Denn das Potenzial der Daten wird heute zu wenig genutzt. Dabei sind genau diese Daten die Grundlage, die präzise und personalisierte Diagnosen und Behandlungen ermöglichen und somit helfen, Krankheiten frühzeitiger zu erkennen, zu lindern oder gar heilen oder verhindern zu können. Blutvergiftungen sind die dritthäufigste Todesursache in Deutschland – insbesondere Intensivstationen in Krankenhäusern sind davon betroffen. Eine KI-gestützte Form der Prävention kann heute schon Vital-Daten analysieren und rund zehn Stunden vor dem Ausbruch einer Sepsis das individuelle Risiko vorhersagen. So eröffnet KI heute schon die Möglichkeit, eine Sepsis zu verhindern, Menschenleben zu retten und gleichzeitig medizinisches Personal zu entlasten.
Berührungsängste zwischen Gesundheitsdienstleistern, Industrie und jungen Unternehmen sollte es nicht geben. In Anbetracht der großen Herausforderungen des demografischen Wandels gerade für die Gesundheitsversorgung besteht daher zwischen Gesundheitsdienstleistern, Industrie und jungen Unternehmen kein Anlass für Berührungsängste. Und für die Politik kein Anlass zu überbordendem Datenschutz. Sondern vielmehr der Auftrag, sich für ein gemeinsames Ziel zugunsten einer bestmöglichen Krankenversorgung einzubringen. Packen wir es an.