Die ambulante Versorgung in Deutschland steht unter Druck. Bis zum Jahr 2035 werden nach Untersuchungen der Robert-Bosch-Stiftung allein in der hausärztlichen Versorgung 11.000 Praxen nicht mehr nachbesetzt werden können. Durch den steigenden medizinischen Versorgungsbedarf einer alternden Bevölkerung und den zunehmenden Ärztemangel wächst eine Versorgungslücke, die insbesondere in ländlichen Regionen bereits deutlich spürbar ist.
Telemedizin hat das Potenzial, diese Lücke zu schließen. Doch statt Telemedizin zu fördern, werden durch neue regulatorische Hürden einhergehende Chancen und Fortschritte blockiert. Und das, obwohl Deutschland beim Einsatz von Telemedizin im internationalen Vergleich ohnehin schon zurückliegt.
Fortschritt braucht bessere Rahmenbedingungen
Das Potenzial telemedizinischer Betreuung hat der Gesetzgeber erkannt und mit dem Anfang 2024 beschlossenen Digitalgesetz (DigiG) versucht, Telemedizin als festen Bestandteil der Gesundheitsversorgung zu verankern. Vorgabe für die Selbstverwaltung war es, Telemedizin-Angebote in weitem Umfang zu ermöglichen.
Doch die kürzlich im Rahmen des Bundesmantelvertrages durch die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) und den Spitzenverband der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-SV) beschlossenen Ausführungsbestimmungen schränken die Telemedizin-Angebote ein, statt sie zu fördern. Nicht nur ist die Nutzung von Videosprechstunden weiterhin auf 30 Prozent der Praxisfälle begrenzt, es wurden sogar zusätzliche Hürden und Restriktionen eingeführt.
Die neuen Regelungen sind nicht nur eine verpasste Chance, sondern stellt sich gegen die eigentliche Zielsetzung des Digitalgesetzes. Damit das Potenzial der Telemedizin vollständig ausgeschöpft werden kann, bedarf es einer innovationsfreundlichen und diskriminierungsfreien Regulierung.
Versorgungsgrenzen abbauen
Dazu gehört, dass die Anbindung an Vor-Ort-Angebote keine Hürde für die telemedizinische Versorgung sein darf. Laut neuer Regulatorik sollen Termine für Videosprechstunden vorrangig an Patient:innen vergeben werden, die in der Nähe der Praxis wohnen. Doch genau das widerspricht dem Grundgedanken der Telemedizin – räumliche Distanzen zu überbrücken und eine ortsunabhängige medizinische Versorgung zu ermöglichen.
Die telemedizinische Grundversorgung muss räumliche Grenzen überwinden und ebenso wie die spezialisierte Versorgung bundesweit zur Verfügung stehen. Gerade Patient:innen mit seltenen und/oder chronischen Erkrankungen sowie Menschen in ländlichen Regionen sind auf Spezialist:innen in größerer Entfernung angewiesen.
Eine strukturierte Anschlussversorgung im Rahmen einer Videosprechstunde kann auch ohne räumliche Nähe zwischen Ärzt:innen und Patient:innen sichergestellt werden. Entscheidend ist eine lückenlose Weiterbehandlung durch eine enge Zusammenarbeit zwischen telemedizinischen Angeboten und der Versorgung vor Ort. Mit dem elektronischen Rezept, der elektronischen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung und der elektronischen Patientenakte wurden bereits erste wichtige Schritte zur digitalen Vernetzung aller Versorgungsebenen unternommen.
Erschließung zusätzlicher ärztlicher Ressourcen
Ein weiterer wichtiger Aspekt zur Verbesserung der Versorgung ist die Erschließung zusätzlicher personeller Ressourcen. Ärztliche Leistungsbegrenzungen, bürokratische Vermittlungspflichten und unattraktive Rahmenbedingungen erschweren es vielen Ärzt:innen, flexiblere Arbeitsmodelle zu nutzen. So wird beispielsweise einer Ärztin in Teilzeit oder einem Arzt im Ruhestand, die weiterhin Patient:innen versorgen möchten, der Zugang zu telemedizinischen Lösungen unnötig erschwert.
Selbst in Regionen mit hoher ärztlicher Versorgung, in denen Telemedizin aus anderen Gründen genutzt wird, stoßen Ärzt:innen aufgrund starrer Leistungsgrenzen an ihre Kapazitätsgrenzen. Werden diese Barrieren abgebaut, kann die Telemedizin erheblich dazu beitragen, den zunehmenden Ärztemangel zu entschärfen – insbesondere durch die Einbindung neuer personeller Ressourcen, die bisher ungenutzt bleiben.
Warum klare gesetzliche Grundlagen unverzichtbar sind
Um also das volle Potenzial der Telemedizin auszuschöpfen und die ambulante Versorgung nachhaltig zu verbessern, sind eine Reihe von strukturellen Anpassungen erforderlich: die Überwindung räumlicher Grenzen, attraktive Rahmenbedingungen zur Erschließung zusätzlicher ärztlicher Ressourcen, eine lückenlose und enge Zusammenarbeit von Telemedizin und Vor-Ort-Angeboten sowie Rechtsverordnungen, die Innovation und Wettbewerb in der Telemedizin fördern.
Unternehmen im Bereich der Gesundheitsdigitalisierung zeigen, dass digitale Gesundheitslösungen selbst unter suboptimalen Rahmenbedingungen stark nachgefragt werden und niedrigschwellig für Ärzt:innen wie Patient:innen umgesetzt werden können. Doch um die Gesundheitsversorgung angesichts der zunehmend herausfordernden demografischen Entwicklungen der kommenden Jahre langfristig zu sichern, sind klare gesetzliche Rahmenbedingungen unerlässlich – nur so kann die Telemedizin ihr volles Potenzial entfalten.
Angesichts des drohenden Mangels von tausenden Ärzt:innen in den kommenden Jahren sind ortsunabhängige Versorgungsmodelle nicht mehr optional, sondern zwingend erforderlich. Nur so kann die knappe Arztzeit optimal genutzt werden. Länder wie Schweden oder die Schweiz machen es vor: Dort ist Telemedizin längst ein fester Bestandteil des Gesundheitswesens und trägt maßgeblich zur Entlastung der ambulanten Vor-Ort-Versorgung bei. Deutschland kann und sollte diesem Beispiel folgen.
Benedikt Luber ist Geschäftsführer bei dem Telemedizin-Anbieter TeleClinic.