An der Hochschule Fresenius haben wir in Studien ermittelt, dass jeder Vierte schon aus seinem Beruf ausgestiegen ist, fast die Hälfte denkt zumindest darüber nach.Nicht mal jeder dritte Zugehörige dieser Berufsfelder möchte aktuell auf jeden Fall weiterhin therapeutisch tätig sein. Das ist auch deshalb bemerkenswert, weil es sich um Menschen handelt, die mit einem hohen Idealismus ihre Karriere starten und ihren Beruf sehr gerne ausüben. Die Tätigkeit ist fachlich anspruchsvoll und enorm vielseitig. Fast jedes medizinische Fachgebiet ist abgedeckt.
Die demografische Entwicklung, eine höhere Lebenserwartung, aber auch der Zunahme etwa an kindlichen Entwicklungsstörungen lässt den Bedarf an Therapeutinnen und Therapeuten kontinuierlich steigen. Wir werden künftig deutlich mehr statt weniger Menschen in den Gesundheitsberufen benötigen, umso kritischer sind die Zahlen zur Berufsflucht, insbesondere aber auch zu der drohenden Abwanderung.
Was sind die Ursachen dafür? Unsere Untersuchungen haben mehrere Gründe identifiziert: Im Mittelpunkt stehen zum einen die geringe Autonomie, fehlende Anerkennung und Lobby. Dazu kommen finanzielle Erwägungen. Wobei wir nicht einmal die pauschale Aussage „Ich verdiene zu wenig!“ zu hören bekommen, sondern eine differenzierte Betrachtungsweise dahingehend feststellen, dass Therapeutinnen und Therapeuten die Diskrepanz zwischen geleisteter Arbeit und dem vergleichsweise niedrigen Gehalt bei gleichzeitig steigenden Lebenshaltungskosten als unfair empfinden. Die Agentur für Arbeit liefert konkrete Zahlen: 2018 lag das mittlere Bruttoeinkommen der Therapeuten bei 2.434 Euro im Monat. Große Sprünge lassen sich damit nicht machen. Kompensiert in den Jahren des Berufseinstiegs der Spaß an der Tätigkeit noch die fehlenden Einnahmen, wird das mit der Zeit und dem Wunsch nach Familiengründung und Eigenheim eine immer stärkere Belastung. Ein Vergleich sei auch noch genannt: Pflegekräfte kamen 2018 im Mittel auf 3.392 Euro brutto.
Zu wenig Mitspracherecht
Die Folgen der Entwicklung sind jetzt schon fatal: Wir haben ermittelt, dass Patienten bereits jetzt zwischen 30 und 60 Tagen warten müssen, um einen Termin zu bekommen. In ländlichen Regionen gibt es häufig schon gar keine Therapeuten mehr – vor allem physiotherapeutische Angebote sind immer seltener anzutreffen. Verschärft wird die Problematik dadurch, dass die Therapie eine ärztliche Verordnung voraussetzt. Wartet der Patient auch da, verzögert sich der Termin beim Therapeuten noch weiter. Damit der Arzt oder die Ärztin ein Rezept inhaltlich und formal passend erstellen kann, sind häufig zeitraubende Absprachen nötig. Mitunter wird nicht das verordnet, was tatsächlich gebraucht wird. Hinzu kommt, dass Therapeuten trotz ihrer Expertise kein Mitspracherecht bei der Entscheidung haben, welche Behandlungen in welchem Umfang die Krankenkassen überhaupt bezahlen. Das alles führt dazu, dass Potenziale der Heilmitteltherapie auf der Stecke bleiben. Darunter leiden die Patienten.
Denn: Viele Erkrankungen wie Rückenschmerzen, Sprachlernschwierigkeiten oder die Folgen von Schlaganfällen lassen sich nicht oder nur bedingt mit Medikamenten oder Operationen behandeln. Ärzte verschreiben dann so genannte Heilmittel, zu denen Physiotherapie, Ergotherapie, Logopädie oder Podologie gehören. Therapeutinnen und Therapeuten trainieren gezielt motorische oder sprachliche Fähigkeiten, damit die Betroffenen ihren Alltag, den Beruf oder die Schule nach einer Erkrankung, einem Unfall oder einer Verletzung wieder aufnehmen und gut bewältigen können. Damit lassen sich Folgeerkrankungen sowie Berufs- oder Arbeitsunfähigkeit und viele Krankmeldungen vermeiden. Zahlreiche Operationen verlaufen besser mit begleitender Heilmitteltherapie, eine Reihe beispielsweise orthopädischer Erkrankungen können Physiotherapeuten genauso wirkungsvoll behandeln wie das mit Operationen möglich ist – allerdings mit deutlich weniger Risiken, Nebenwirkungen und Kosten.
Therapeutenverbände ringen um mehr Anerkennung
Während Heilmittelerbringer in fast allen anderen europäischen Ländern an Hochschulen studieren und mehrheitlich auf Augenhöhe mit Ärzten arbeiten, absolvieren die Therapeuten in Deutschland in der Regel eine dreijährige Ausbildung und dürfen nur auf ärztliche Weisung arbeiten. Der Arzt oder die Ärztin entscheidet über Umfang und Inhalte der Behandlung. In der Praxis muss ein Therapeut den Patienten dennoch sehr genau untersuchen und ein individuelles Behandlungskonzept entwerfen. Neben umfangreichen therapeutischen Fachkompetenzen ist hierfür auch medizinisches Wissen notwendig.
Was kann Abhilfe schaffen? Insgesamt müssen wir therapeutische Berufe langfristig attraktiver machen, um die Patientenversorgung mit Heilmitteln in Zukunft sicherstellen zu können.
Seit vielen Jahren kämpfen Therapeutenverbände um mehr Anerkennung im Gesundheitswesen und eine angemessene Bezahlung. Solange die Heilmitteltherapie jedoch ein Ausbildungsberuf bleibt, die Therapeuten keine berufliche Selbstverwaltung und kein Mitspracherecht bei der Erstellung der Heilmittelrichtlinien besitzen und auf Verordnungen durch Ärzte angewiesen sind, werden sie ihre Belange auch in Zukunft nicht durchsetzen können. Hierbei geht es nicht nur um die Zufriedenheit der Berufsangehörigen, sondern um eine bestmögliche Patientenversorgung und langfristige Kostensenkung. Eine akademische Ausbildung ermöglicht Forschung und damit bessere Therapiemöglichkeiten. Sie ist Voraussetzung für berufliche Autonomie. Patienten können direkt zum Therapeuten gehen, ohne Umweg über den Arzt. Das spart nicht nur Zeit, sondern auch Kosten. In den europäischen Nachbarländern konnte gezeigt werden, dass der Direktzugang zum Therapeuten mit einer höheren Patientenzufriedenheit und kürzerer Behandlungsdauer einhergeht. Diesem Vorbild sollten wir uns auch in Deutschland anschließen.
Sabine Hammer ist Professorin für Sozialforschung an der Hochschule Fresenius.