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Gesundheit & E-Health

Standpunkte Über die Eigenarten der individuellen Prävention

Urban Wiesing, Institut für Ethik und Geschichte der Medizin, Uni Tübingen
Urban Wiesing, Institut für Ethik und Geschichte der Medizin, Uni Tübingen Foto: privat

Es scheint gegenwärtig geradezu selbstverständlich geboten zu sein, sich präventiv zu verhalten. Man strebe nach Gesundheit und langem Leben! Dazu liefern die Medien unzählige Anleitungen, wie das gelingen kann. Doch muss dem so sein, muss man sich wirklich stets präventiv verhalten? Und worauf lässt man sich dabei ein? Im Standpunkt unternimmt Urban Wiesing einen Klärungsversuch.

von Urban Wiesing

veröffentlicht am 02.11.2023

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Prävention hat einen fabelhaften Ruf. Sie gilt eigentlich immer als gut. Wer wollte schon behaupten, wir sollten weniger Prävention betreiben?

Doch genau betrachtet sieht es komplizierter aus, wenn Individuen durch eigenes Verhalten der Prävention nachgehen. In diesem Fall gestalten sie Gegenwart für zukünftigen Nutzen. Sie verändern ihr Verhalten in der Gegenwart, um zu späterer Zeit mehr Zeit und gesündere Zeit zu erhalten. Individuelle Verhaltensprävention ist insofern ein Zeitenhandel. Manche sprechen gar von einem Investment, das noch nicht vorhandene, vorweggenommene, negativ bewertete Erscheinungen in der Zukunft verhindern möge.

Dazu stehen zahlreiche Hilfsmittel zur Verfügung – wissenschaftlich geprüfte und ungeprüfte. Risiken werden minutiös erkannt und hilfreiche Präventionen empfohlen. Risikofaktoren benennen detailliert, wie sich eine Handlung auf die zukünftige Lebenserwartung auswirkt. Das Angebot an präventiven Verhaltensweisen, Mitteln und Mittelchen aller Art ist unüberschaubar. Man kann ihm gar nicht ausweichen.

Eine ungefragte und aufdringliche Herausforderung

Der Mensch sieht sich also gegenwärtig ungefragt mit der Möglichkeit konfrontiert, in der Gegenwart seine Zukunft zu gestalten. Dem kann er nicht entrinnen. Wenn ihm das alles nicht passt und er deswegen die Möglichkeiten der Prävention ignoriert, dann geht er durch die Ignoranz das Risiko ein, Risiken nicht zu beachten – das sogenannte ‚Risiko-Ignoranz-Risiko‘. Keine Antwort auf Präventionsmöglichkeiten ist eben auch eine Antwort – nur ist es die Richtige? Prävention ist eine ungefragte und aufdringliche Herausforderung.

Prävention strebt nach Kontrolle einer niemals vollständig kontrollierbaren Welt. Denn Erfolg kann Prävention nicht garantieren. Sie kann gelingen oder scheitern. Manchmal wirkt sie, manchmal wirkt sie nicht. Bei jedem Zeitenhandel in präventiver Absicht wird es Erfolge und Misserfolge geben und stets eine Kluft zwischen Angestrebtem und Erreichtem, mal mehr, mal weniger. Denn Zukunft ist immer nur in Grenzen und mit eingeschränkter Gewissheit gestaltbar. Und ob die Prävention wirkt, weiß man erst, wenn die Zukunft keine Zukunft mehr ist, sondern Gegenwart. Überdies können ein schnöder häuslicher Unfall (Frühjahrsputz!) oder andere Widerfahrnisse die raffiniertesten präventiven Zukunftsplanungen jäh durchkreuzen.

Prävention wirkt sich auf das Zeiterleben aus. Sie kann die Verteilung der Aufmerksamkeit zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zugunsten der Zukunft verschieben. Man lebt in der Gegenwart nur mit Bedacht auf die Zukunft. Präventive Bemühungen um eine Maximierung der Lebenszeit können das gegenwartsbezogene, intensionale Zeiterleben beeinträchtigen. Prävention fördert auch eine Art von ‚Gegenwartsschrumpfung‘ (Hermann Lübbe).

Fluch und Segen

Zudem kann sie zu paradoxen Ergebnissen führen. Der präventive Zeitaufwand kann größer sein als der gewünschte Zeitgewinn. Und wenn man das präventive Verhalten noch nicht einmal mag, sieht die Bilanz noch schlechter aus. Wie beschrieb es die österreichische Kabarettistin Lisa Eckhart: „Die Zeit, die ich durch Sport nach hinten raus gewinne, habe ich ja vorher mit Sport verschissen.“

Prävention ist insofern ambivalent, sie kann sich als Fluch und als Segen erweisen. Wer sich an gesunder Ernährung erfreut und gerne Sport betreibt, für den sind präventiv gestaltete Gegenwart und zukünftiger Zeitgewinn gewiss bereichernd. Wer Prävention nur widerwillig vollzieht und dann auch noch scheitert, hat nichts gewonnen, nur Gegenwart verloren.

Es bleibt die ethische Frage: Gibt es eine moralische Pflicht zur individuellen Verhaltensprävention? Hier stößt man in der Moderne alsbald auf den Grundsatz, dass über ein gelingendes Leben zu befinden eine individuelle Angelegenheit ist. Sie entzieht sich allgemeinverbindlicher inhaltlicher Urteile. Ein Jeder selbst muss die Frage beantworten, ob er präventive Ziele anstreben und entsprechende Maßnahmen vollziehen will. Von dieser Verantwortung ist niemand entlastet. Die Qual der Wahl lässt sich auch hier nicht vermeiden.

Ironie als Haltung

Welche Haltung bietet sich angesichts ungefragter Herausforderungen, Eigenverantwortung und Gefahr des Scheiterns, der Vergeblichkeit an? Die Ironie! Bei den aufdringlichen Eigenarten der individuellen Prävention hat es sich als klug erwiesen, eine Haltung der Ironie einzunehmen, sich loszulösen, Distanz zur Aufdringlichkeit des Geschehens einzunehmen, ihm mit Gelassenheit zu begegnen und sich auf Abstand von erdrückender Unmittelbarkeit zu halten. Zudem bedingt die Ironie einen freudigen Verzicht auf eine letzte Versicherung, was denn nun das einzig Richtige sei. Denn die gibt es im Leben ebenso wenig wie in der Prävention. Ironisch lassen sich die Konstellationen der individuellen Prävention besser ertragen.

Ist Prävention also immer gut? Prävention trägt häufig zu einem gelingenden Leben bei, aber auch andere Lebensstile können überzeugend sein und gelingen. Es kommt eben darauf an…

Prof. Dr. Dr. Urban Wiesing ist Direktor des Instituts für Ethik und Geschichte der Medizin an der Eberhard Karls Universität Tübingen. Sein Buch „Zeitenhandel. Über die Kunst der Prävention“ ist kürzlich im frommann-holzboog-Verlag erschienen.

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