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Standpunkte Weichen für eine nachhaltige Gesundheitspolitik stellen

Urban Wiesing
Urban Wiesing
Martin Scherer
Martin Scherer
Urban Wiesing (links) ist Professor für Medizinethik in Tübingen und Martin Scherer der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin Foto: privat, privat

Die zukünftige Regierung hat die Chance, die Weichen für eine nachhaltige Gesundheitspolitik zu stellen, indem sie wissenschaftliche Erkenntnisse zur Verhältnisprävention beherzigt und entsprechend investiert. Doch für eine solche politische Reaktion finden sich im Koalitionsvertrag keine Anzeichen, kritisieren der Medizinethiker Urban Wiesing und der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin, Martin Scherer.

von Urban Wiesing & Martin Scherer

veröffentlicht am 06.05.2025

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Noch nie wurde in Deutschland so viel Geld für das Gesundheitswesen ausgegeben, und noch nie war der Anstieg der Lebenserwartung so gering – wenn sie überhaupt anstieg. Andere Länder erfreuen sich zudem höherer Lebenserwartung bei geringeren Ausgaben. Die Kosten des Gesundheitswesens steigen überdies und erweisen sich als Belastung für die Wirtschaft und Standortnachteil.

In diesem Zusammenhang gilt nicht selten die Prävention als eine der Möglichkeiten, der Misere zu begegnen. Dabei wird eine wichtige Unterscheidung gerne außer Acht gelassen: zwischen der individuellen Verhaltensprävention (Diät, mehr Bewegung…) und der Verhältnisprävention (gesündere Lebensverhältnisse), die meist gesellschaftlich organisiert ist.

Die empirischen Resultate beim Vergleich der beiden Präventionsstrategien sind eindeutig: Verhältnisprävention ist erfolgreicher als Verhaltensprävention. Diäten bewirken nichts, Lebensstiländerungen gelingen zumeist nicht. Verhaltensprävention ist zudem elitär, da ihre Erfolge vermehrt bildungsnahen Schichten zukommen und damit denjenigen, die ohnehin ein geringeres Krankheitsrisiko besitzen. Zudem erklärt die individuelle Verhaltensprävention die Gesundheitsfrage zur individuellen Verantwortung und damit auch das Scheitern – womit zumeist zu rechnen ist.

Politischer Entscheidungswille ist zu schwach

Hingegen erweisen sich Maßnahmen der Verhältnisprävention wie Steuern auf Zucker, Alkohol, Tabak, Werbeverbote etc. als deutlich wirksamer. Viele der erfolgreichen verhältnispräventiven Maßnahmen gegen Volkskrankheiten setzen noch nicht einmal direkt beim Gesundheitswesen an, sondern bei Steuererhöhungen, Werbeverboten, Erschwernisse in Bezug auf ungesunde Lebens- und Ernährungsweisen sowie leichterem Zugang zu gesundem Verhalten.

Verhältnisprävention, z.B. ungesunde Nahrung schwerer zugänglich zu machen, scheitert trotz ihres Erfolgspotentials nicht selten an wirtschaftlichen Interessen. Hochkalorische und leicht verfügbare Nahrung lässt sich industriell gut herstellen und erfolgreich vermarkten. Gegen solche wirtschaftlichen Interessen erweist sich der politische Entscheidungswille nicht selten als zu schwach.

Verhältnisprävention scheitert in Deutschland am politischen Mut und am Einfluss des Lobbyismus. Stattdessen setzt die Politik zuweilen auf Maßnahmen, bei denen schon vorab klar ist, dass sie nichts bringen werden: freiwillige Selbstverpflichtungen der Industrie. Im internationalen Vergleich spielt Deutschland bei der Verhältnisprävention eine unrühmliche Rolle. Andere Länder sind konsequenter vorgegangen und erfolgreicher.

Warum Verhaltensprävention wenig Erfolg bringt

Diese Konstellation führt jedoch dazu, die ärztliche Praxis, die ohnehin in Deutschland weit überdurchschnittlich besucht wird, mit Anforderungen an die Verhaltensprävention zu überfrachten. Dies sei an einem Beispiel erläutert. Es ist gut belegt, dass Übergewicht bei Kindern lebenslange Folgen hat. Es ist überdies mit niedrigem sozialem Status verbunden. Es ist zudem gut belegt, dass individuelle Verhaltensprävention gerade dort nicht erfolgreich ist, auch nicht durch das Ansprechen des Themas bei Arztbesuchen. Der Versuch, über Verhaltensprävention das Ernährungsverhalten zu ändern, frustriert nur die Kinder. Auch die WHO fordert eine Abkehr von der Individualisierung bei Maßnahmen gegen das Übergewicht.

Wenn – wie geschehen – politische Überlegungen nur ein moderates Werbeverbot von ungesunder Nahrung diskutieren (in der Nähe von Schulen), also eine Verhältnisprävention, kommt es sofort zu einer massiven Gegenreaktion der Nahrungsmittelindustrie. Selbst ein Appell von 61 Gesundheitsorganisationen für ein Werbeverbot von ungesunder Nahrung scheiterte an der FDP.

Medikalisierung statt echter Prävention

Dahinter steckt ein unreflektiertes Freiheitsverständnis. Gegen eine effektive Bekämpfung von Übergewicht bei Kindern mit Hinweis auf wirtschaftliche Freiheiten zu argumentieren, ist ein Missverständnis von Freiheit. Denn die Freiheit des Einen endet beim Schaden des Anderen. Die Lebensmittelindustrie kann sich bei Nahrung, die bei Kindern lebenslang zu erheblichen gesundheitlichen Komplikationen führt, schwerlich auf die Freiheit zur Werbung berufen.

Doch dieses Missverständnis ist kein Einzelfall. Die deutsche Gesundheitspolitik steckt in einer ideologischen Sackgasse: Sie verschiebt Verantwortung auf den Einzelnen, vernachlässigt strukturelle Maßnahmen und verzettelt sich in einer Medikalisierung der Gesellschaft, anstatt die Bedingungen von Krankheiten anzugehen.

Das Gesundes-Herz-Gesetz (GHG) der Ampelregierung war das jüngste Symbol dieser fehlgeleiteten Politik. Statt Herz-Kreislauf-Erkrankungen durch bessere Lebensbedingungen und verhältnispräventive Maßnahmen zu verhindern, setzte man auf noch mehr Diagnostik, noch mehr Medikamente – und ignorierte dabei die sozialen Bedingungen von Krankheit. Das GHG ist mit dem Ampelbruch Geschichte. Doch der Reflex bleibt: ein System, das sich darauf konzentriert, Krankheiten festzustellen und zu behandeln, anstatt sie durch Verhältnisprävention zu verhindern. Dabei zeigen die Daten klar: Eine solche Strategie funktioniert nicht. Sie produziert Überdiagnosen, Angst und Nebenwirkungen – und macht aus gesunden Menschen Patienten.

Armut macht krank – und Medikalisierung heilt sie nicht

Wer arm ist, stirbt früher. Wer arm ist, hat schlechteren Zugang zu guter Ernährung, schlechtere Wohnbedingungen, weniger Bildungschancen. Wer arm ist, landet häufiger im Krankenhaus – nicht, weil er „ungesünder lebt“, sondern weil die Umstände es erschweren, gesund zu bleiben. Diese Gedanken sind weithin bekannt. Nicht zuletzt die Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM) hat sich in dieser Richtung in ihrem Positionspapier „Armut macht krank“ geäußert.

Die zukünftige Regierung hat die Chance, die Weichen für eine nachhaltige Gesundheitspolitik zu stellen. Es gibt zahlreiche wissenschaftlich basierte Verhältnispräventionen: Eine Studie aus den Niederlanden kommt zu dem Ergebnis, dass von 51 Interventionen zur Prävention die kostenwirksamsten und kostensparendsten allesamt Maßnahmen waren, die sich nicht direkt an die Lebensführung des Einzelnen wandten. Erfolgreicher waren Steuern auf ungesundes Fastfood, eine Ampel zur Nährstoffkennzeichnung auf Nahrung, eine Preiserhöhung um zehn Prozent von Produkten mit hohem Zuckeranteil, die Erhöhung der Alkoholsteuer um 200 Prozent oder eine Kombination aus Rauchverboten, Raucherentwöhnungshilfen, Kampagnen in den Massenmedien gegen Rauchen, Werbeverbot sowie zehn Prozent Steuererhöhung auf Tabakprodukte. Am wenigsten erfolgreich erwiesen sich pädagogische Programme, die zur individuellen Verhaltensänderung erziehen sollten.

Die Erkenntnisse sind bekannt, für eine politische Reaktion finden sich im Koalitionsvertrag keine Anzeichen. Deutschland sollte es sich nicht länger leisten, Milliarden in die Medikalisierung der Gesellschaft zu stecken und die Bedingungen für Erkrankungen unangetastet zu lassen.

Prof. Dr. med. Dr. phil. Urban Wiesing ist Direktor des Instituts für Ethik und Geschichte der Medizin an der Universität Tübingen. Prof. Dr. med. Martin Scherer ist Präsident der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin.

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