Wir kennen sie inzwischen alle: die erschütternden Berichte über den Arbeitsalltag von Pflegerinnen und Pflegern in Krankenhäusern und in der Altenpflege. Unzählige Reportagen, Dokumentationen und Artikel haben die physisch und vor allem psychisch belastenden Arbeitsbedingungen bei schlechter Bezahlung thematisiert.
Wen verwundert es da, dass im vergangenem Jahr mitten in der Coronapandemie 9.000 Pflegekräfte ihren Job an den Nagel gehängt haben. Ein Drittel der Pflegekräfte überlegt laut einer Umfrage des Deutschen Berufsverbands für Pflegeberufe demnächst umzusatteln. Bis zum Jahr 2035 werden laut dem Institut der deutschen Wirtschaft in der stationären Versorgung rund 307.000 Pflegerinnen und Pfleger fehlen.
Belastungsgrenze längst erreicht
Das Maß ist voll, die Grenze der Belastung ist längst überschritten. Schon viel zu lange arbeitet das Pflegepersonal in Krankenhäusern, Pflegeeinrichtungen und in der häuslichen Pflege unter extremen Bedingungen. Ein Großteil davon sind Frauen. Zu wenig Personal für zu viele Patientinnen und Patienten, hohe psychische und physische Belastung, großer Zeitdruck und eine zu schlechte Bezahlung.
Wir können täglich dabei zuschauen, wie das hochmotivierte, laut beklatschte und „systemrelevante“ Personal in den Kliniken in den Burnout rutscht. Das ist nicht nur eine Katastrophe für das Pflegepersonal – es ist auch eine Katastrophe für uns, die wir alle an irgendeinem Punkt unseres Lebens auf gute Pflege angewiesen sein werden, und zwar von Fachkräften, die für ihre Arbeit am Menschen gut bezahlt werden und gute Arbeitsbedingungen haben. Denn es geht um das Wichtigste, es geht um die Würde des Menschen und oft auch um Leben und Tod. Gute Pflege ist nicht nur systemrelevant, sie ist lebensrelevant!
Es löst die grundsätzlichen Probleme unseres Gesundheitssystems nicht, wenn wir Pflegekräfte aus den Philippinen, Honduras, Polen oder Mexico abwerben, wo sie dringend gebraucht werden.
Niedrige Gehälter + schlechte Arbeitsbedingungen = Fachkräftemangel
Die Arbeitsbedingungen und die Bezahlung müssen stimmen, denn dann wird dieser anspruchsvolle Beruf auch wieder attraktiv – eigentlich doch einfach und einleuchtend, sollte man meinen. Und es gibt noch ein großes Problem: Unser Pflegesystem! Seit Jahren werden Krankenhäuser privatisiert und auf Profit getrimmt, Personal wird deshalb eingespart. Den Preis zahlt das Pflegepersonal und wir, die Patientinnen und Patienten. Wir fordern eine Gesundheitspolitik, die sich am Gemeinwohl und nicht an Börsengewinnen orientiert. Gesundheit ist keine Ware!
Wir, die Bundesarbeitsgemeinschaft kommunaler Frauenbüros und Gleichstellungsstellen, fordern schon seit Jahrzehnten eine deutliche Aufwertung (nicht nur) der Pflegeberufe. Warum passiert so wenig? Liegt es daran, dass in der Pflege hauptsächlich Frauen arbeiten und sogenannte Frauenberufe traditionell deutlich niedriger bewertet werden als sogenannte Männerberufe?
Neubewertung der Gehälter muss her
Eine Studie der Hans-Böckler-Stiftung hat die Bezahlung der unterschiedlichsten Berufe unter die Lupe genommen. Dazu wurde ein spezielles Messinstrument (Comparable Worth, kurz CW-Index) entwickelt. Dabei werden einfach gesagt Punkte verteilt. Zum Beispiel für die Länge der Ausbildungszeit, die Höhe der Verantwortung, physische und körperliche Belastung und ob in dem Beruf Schichtdienst anfällt. Nach diesem Modell erreichen medizinische Fachkräfte, den gleichen CW-Index wie Software-Entwickler und -Entwicklerinnen.
Und die Bezahlung? Ein Beispiel: Softwareentwickler verdienen im Schnitt 27,68 Euro pro Stunde, eine medizinische Fachkraft 15,65 Euro und eine Altenpflegerin 14,24 Euro. Also trotz gleichem Index ein deutlich niedrigeres Gehalt. Das muss sich ändern!
12. Mai: Internationaler Tag der Pflege
Heute, am Internationalen Tag der Pflege, werden bundesweit Hunderttausende Pflegekräfte und Menschen, die sie unterstützen, auf die Straße gehen, um für unser aller Zukunft zu demonstrieren. Auch wir! Mit einem Sleep-In um fünf vor zwölf vor dem Reichstag wollen wir darauf hinweisen, dass das Pflegepersonal am Ende seiner Kräfte ist. Und wir bleiben auch nach dem 12. Mai dran!
Bis zum Ende des Jahres werden wir unter dem Motto „Wann, wenn nicht jetzt!“ eine Pflegekampagne mit drei thematisch unterschiedlichen Schwerpunkten starten.
Die drei Kampagnenelemente – „Pflegerebellion“, „Keine Ware“ und „lebensrelevant“ – wurden in unserem Auftrag von Studierenden der Berlin School of Design and Communication entwickelt. Mit dieser Pflegekampagne wollen wir unseren Teil dazu beitragen, damit sich endlich etwas ändert. Über den gesamten Kampagnenzeitraum arbeiten wir mit Pflegerinnen und Pflegern zusammen.
Politik dringend gefragt!
Wir alle haben jetzt – im Jahr der Bundestagswahl – die Chance genau zu schauen, inwieweit die Parteien bereit sind, die Pflegeberufe endlich aufzuwerten und das gesamte Gesundheitssystem radikal zu reformieren. Wenn, dann jetzt müssen sich die politischen Parteien im Bundestagswahlkampf an ihren Vorschlägen für eine gute und faire Pflege messen lassen.
Und bitte: Keine leeren Versprechungen – wie gesagt: Das Maß ist voll!
Heike Gerstenberger ist langjährige Bundessprecherin der Bundesarbeitsgemeinschaft (BAG) kommunaler Frauenbüros und Gleichstellungsstellen, dem Dachverband von rund 1.900 Frauen- und Gleichstellungsbeauftragten in Deutschland. Von 1990 bis 2020 war sie Gleichstellungsbeauftragte in Berlin-Pankow
Anke Spiess ist Mitarbeiterin der Bundesarbeitsgemeinschaft (BAG) kommunaler Frauenbüros und Gleichstellungsstellen sowie freiberufliche Radio- und Fernsehjournalistin.