Rund 100.000 Arztpraxen sind in Deutschland in Gesundheitsfragen nach wie vor der erste Kontakt für Millionen Bundesbürger:innen. Inzwischen sind mehr als 90 Prozent von ihnen an die Telematikinfrastruktur (TI) angebunden und erfüllen damit – zumindest theoretisch – die Grundvoraussetzungen für eine digitale Gesundheitsversorgung. Weil sowohl Ärzt:innen als auch Patient:innen die neuen technologischen Möglichkeiten wie das E-Rezept oder die elektronische Patientenakte aus unterschiedlichen Gründen nicht ausreichend nutzen wollen oder können, hat sich bei der flächendeckenden Digitalisierung der Arztpraxis in den letzten 30 Jahren zu wenig getan – es hakt immer noch an der Implementierung und Anwendung. Das Ergebnis: Etwa 95 Prozent der Kommunikation zwischen Praxen und Krankenhäusern erfolgt nach wie vor in Papierform – in Zahlen bedeutet das allein 144 Millionen gedruckte Arztbriefe pro Jahr, die per Post oder Fax verschickt werden oder von Patient:innen selbst von A nach B getragen werden.
Ärzt:innen beklagen immer wieder die daraus resultierende Verschwendung von Zeit und Ressourcen. Erst kürzlich kam eine Studie von McKinsey zum Ergebnis, dass sich durch Produktivitätssteigerung bei Leistungserbringern und die Verringerung des medizinischen Bedarfs bis zu 42 Milliarden Euro im Gesundheitswesen einsparen ließen. Auch wenn man solche theoretischen Beträge mit Vorsicht betrachten muss, wären die Einsparungen bei einem historischen Rekordwert an Fehlbeträgen der Krankenkassen ein wichtiger Schritt.
Es steht ein Generationenwechsel an
Wenn wir die Digitalisierung des Gesundheitswesens in Deutschland vorantreiben wollen, dann ist jetzt der perfekte Zeitpunkt: Ende 2018 waren rund 68 Prozent der in Praxen tätigen Ärzt:innen mindestens fünfzig Jahre alt, knapp ein Drittel von ihnen über sechzig. Im Lauf der nächsten Jahre werden tausende Ärzt:innen ihre Praxen an die nachfolgende Generation übergeben. Diesen Generationswechsel gilt es jetzt zu nutzen.
Hinzu kommt das Momentum aus der Corona-Pandemie: COVID-19 hat der digitalen Gesundheitsversorgung in vielerlei Hinsicht einen Schwung gegeben. Die Impfkampagne hat die Nutzung von Online-Terminbuchungen auf ein neues Level gehoben: Im Jahr 2021 wurden insgesamt 15 Millionen Termine in Deutschland über die Webseite oder die App von Doctolib gebucht. Eine Million Deutsche griffen dafür zum ersten Mal für die Suche nach einem Impftermin auf die Vorteile der Online-Buchung zurück. Auch die Anzahl der Videosprechstunden ist laut dem „eHealth Monitor 2021“ von McKinsey von weniger als 3.000 Gesprächen vor COVID-19 auf 2,67 Millionen gestiegen – also um das 900-Fache. Die Pandemie hat den Mangel an Standardisierung und Vernetzung im deutschen Gesundheitswesen schmerzvoll offengelegt: Mit unterschiedlichen und veralteten Systemen war der schnelle und zuverlässige Austausch zwischen Gesundheitseinrichtungen unmöglich. Spätestens seit dem immensen administrativen Mehraufwand durch die Impfkampagne ist der Handlungsbedarf offensichtlich.
Mit Ärzt:innen gemeinsam an Lösungen arbeiten
Doch wichtig ist: Digitalisierung darf niemals ein Selbstzweck sein – ob sie gelingt, entscheidet sich in der Sprechstunde. Aktuelle Beispiele wie die elektronische Patientenakte verdeutlichen, dass es hier einen anderen Ansatz braucht. Trotz der Einführung der elektronischen Patientenakte hat knapp jeder vierte Deutsche noch nie von ihr gehört und jeder Fünfte möchte diese laut der Studie Technikradar 2022 wegen Datenschutzbedenken gar nicht nutzen. Zudem hatten Anfang des Jahres erst 30 Prozent aller Praxen laut Gematik das Modul installiert, das notwendig ist, um die ePA zu verwenden. Doch was sind die Gründe für die Skepsis auf Ärzte- und Patientenseite?
Im Kern geht es nicht nur um die technische Umsetzung, die Nutzerfreundlichkeit und die Interoperabilität der unterschiedlichen Lösungen, sondern auch um die zielführende Aufklärung und Schulung. Der Begriff der Digital Literacy (Digitale Kompetenz) beschreibt sehr treffend, dass sowohl die Ärzt:innen als auch die Patient:innen im Umgang mit den neuen Softwarelösungen geschult werden müssen, bevor sie diese verstehen und anwenden können. Ziel muss es daher sein, diejenigen, die die Anwendungen in ihrer Praxis nutzen wollen, bestmöglich zu unterstützen – im Sinne einer gemeinschaftlichen Haltung, keine „Verordnung von oben“.
Zusammenspiel der Akteur:innen fördern
Gescheitert sind die zahlreichen Digitalisierungsinitiativen bisher auch daran, dass das deutsche Gesundheitssystem hoch fragmentiert ist und eine Vielzahl unterschiedlicher Leistungserbringer mitziehen müssen, damit die Digitalisierung für alle klappt. Unsere Devise muss es daher sein, Standards zu hinterfragen und bei allen Akteur:innen den Wunsch zu erzeugen, die Digitalisierung der Arztpraxen im Sinne der Ärzt:innen und Patient:innen aktiv mitzugestalten. Dafür brauchen wir politische Rahmenbedingungen, die das Silo-Denken im Gesundheitswesen aufbrechen, Mikrointeressen aushebeln und Medizin, Politik und Wirtschaft viel stärker vernetzen.
Unser europäischer Nachbar macht vor, wie es geht: In Frankreich ist der PariSanté Campus zum europäischen Vorzeigebeispiel eines eHealth-Innovation-Hubs geworden: Praktiker:innen, Forscher:innen, Studierende, Start-ups und Industrieunternehmen arbeiten gemeinsam an der Gesundheitsversorgung von morgen. Mit dem Auslauf des Health Innovation Hubs (hih) Ende 2021 wurde ein ähnlicher Ansatz in Deutschland vorerst beendet. Hier sollte Minister Lauterbach noch einmal ansetzen.
Finanzielle Unterstützung ist wichtiger Hebel
Nicht zuletzt bedarf es aber ganz konkret finanzieller Mittel und Anreize für den infrastrukturellen Ausbau der Praxen und die Anwendung digitaler Lösungen. Laut aktuellen Studien sieht rund die Hälfte der Gesundheitseinrichtungen in Deutschland die größte Herausforderung der Digitalisierung immer noch in der Finanzierung. Mit dem Krankenhauszukunftsgesetz wurde diesem Problem aus Sicht der deutschen Kliniken Abhilfe geschafft. Jetzt brauchen wir ein Praxiszukunftsgesetz, damit auch die Arztpraxen den Sprung ins digitale Zeitalter schaffen. Ein digitaler Reifegrad könnte dabei helfen, die Förderung gezielt und nicht nach einem Gießkannenprinzip zu verteilen. In Frankreich wurde nach einem ähnlichen Prinzip besonders Interoperabilität, Datenportabilität, Standardisierung und die aktive Nutzung der Anwendungen gefördert.
Das Momentum ist da: Durch die Corona-Pandemie haben sowohl Ärzt:innen als auch Patient:innen erfahren, welche Vorteile die Digitalisierung für die Versorgung bringt. Darüber hinaus werden zahlreiche Praxen in den kommenden Jahren an eine jüngere Generation übergeben, für die der Umgang mit digitalen Anwendungen in anderen Lebensbereichen selbstverständlich ist. Die Chance, diesen Generationenwechsel mitzugestalten und die Potenziale der Digitalisierung freizusetzen, ist greifbar nah.
Dr. Ilias Tsimpoulis ist Chief Medical Officer von Doctolib.