Umweltbelange finden seit der Ölkrise Eingang in die Architekturpraxis. Häuser werden eingepackt um die Wärme im Inneren zu bewahren, Fenster werden so platziert und in ihrer Größe gewählt, um den besten Nutzen aus den Sonnenstrahlen zu gewinnen. Auch der „aktiv“ genannte Teil, die technische Gebäudeausstattung, die ein Gebäude mit Energie versorgen haben, hat sich stark entwickelt. Geräte sind dezentral einsetzbar und (über-)formen damit die Gebäudehaut. Der Anteil an erneuerbarer Energie zur Wärme- und Stromversorgung konnte wachsen.
Im Climate Design arbeiten Fachplaner:innen und Entwerfende in der frühen Planungsphase zusammen. Beide Gruppen haben gelernt sich mit dem Mikroklima auseinanderzusetzen und die Bedingungen als Parameter in die Entwicklung des Gebäude und zum Beispiel die Beschaffenheit von Tragwerk und Fassade zu integrieren. Der Anteil an Technik im Gebäude ist stark gestiegen mit dem Ziel den Komfort in Innenräumen sowie Energieart und -menge im Betrieb zu verbessern.
Die Postulate in der Planerschaft reichen von No Tech, Low Tech bis zu High Tech, also dem Wunsch die Komplexität der Systeme mit ihren Anfälligkeiten im Betrieb zu reduzieren, bis zum Glauben, dass mit der Gebäudetechnik jede Architektur thermisch komfortabel gemacht werden kann. Diese Prinzipien haben dazu geführt, dass die Umweltwirkungen im Kontext von Gebäuden deutlich niedriger wurden.
Der Bestand bietet besonderes Potenzial
Seit etwa 15 Jahren kommt eine Betrachtungsebene hinzu – die Perspektive des Lebenszyklus, also die Berücksichtigung der Herstellung eines Gebäudes, die Nutzung und die Phase danach. Die genannten Prinzipien, Passivhaus, Aktivhaus, Climate Design, und die Technikfrage beziehen sich ausschließlich auf die Nutzung. Das war sehr sinnvoll, lagen hier die größten Einsparpotenziale. Mittlerweile sind die Umweltwirkungen im Betrieb stark gesunken.
Mit der Lebenszyklusperspektive rückt ein weiteres Potenzial zur Verbesserung der Umweltwirkung in den Fokus: die verbauten Ressourcen. Beruhend auf der Darstellung des Lebenszyklus als Kreis, wird diese Form als Idealbild genutzt, in dem kein Wert verloren geht. Unter dem Begriff zirkuläres Bauen werden Aktivitäten gefasst, die möglichst viele Phasen des Lebenszyklus abdecken und die Ressourcenführung über ein Zirkularitäts- oder Ressourcenkonzept abfragen. Die Nutzung des Bestands, Wiederverwendung auf Bauteil- und Produktebene, Einsatz von Recycling-Bauprodukten oder aus erneuerbaren Rohstoffen sowie die Planung für die Nachnutzung sind verbreitete Strategien im Kontext des zirkulären Bauens.
Der Bestand bietet besonderes Potenzial. Er wird hinsichtlich einer Weiternutzung befragt, denn hier sind die Umweltwirkungen bereits vollzogen. Dabei werden Planende effizientere und systematischere Prozesse erlernen (müssen), um die Qualität von Bestand zu verstehen und Risiken durch nicht sichtbare Eigenschaften einzuschätzen. Konzepte zur seriellen Sanierung lassen auf Fortschritt in diese Richtung hoffen. Digitale Tools zur Bestandserfassung beschleunigen schon heute die Aufnahme. Lernende Systeme können mit Künstlicher Intelligenz dabei helfen, Handlungsbedarf zu identifizieren und den jeweiligen Aufwand abzuschätzen.
Die Vergangenheit gibt die Zukunft vor
Bauteile und -produkte, die frei werden, wenn ein Gebäude nicht mehr nutzbar ist, gelangen zunehmend in den Markt für neue Bauprojekte. An Prototypen lässt sich ablesen, dass eine Re-Zertifizierung ein neues Geschäftsmodell ist und es durchaus wirtschaftlich sein kann, Produkte mehrfach zu verkaufen.
Es sind Hürden zu nehmen, aber es sind alle Kompetenzen vorhanden und die Zahl der lückenschließenden Akteur:innen wächst. Produkte aus der „urbanen Mine“ wieder zu nutzen, bedeutet ein Umdenken im Architekturprozess und in Teilen auch in der Raumwahrnehmung. Im bewussten Umgang mit Material wird die Menge und die Art der Bausubstanz hinterfragt, was als eine Einschränkung wahrgenommen werden kann. Genutzte (Bau)-Produkte können Gestaltungs- und Konstruktionsprinzipien prägen, die sich aus den Abmessungen oder der Art der erforderlichen Konstruktion ergeben. Man leitet seine Idee also aus den vorgefundenen Materialien und Produkten ab. Das ist mindestens ungewohnt für Planende, die in der Regel einen Entwurf entwickeln und im Anschluss die passenden Produkte aussuchen.
Die Wiederverwendung von Bauteilen konfrontiert Planende genau wie die Nutzenden mit dem Erbe vorangegangener Gebäude und bringt damit Themen aus einer anderen Zeit mit. Die Integration verschiedener zeitlicher Schichten kann die Frage der Begrenztheit des eigenen Werkes anstoßen, was eine ungewohnte Perspektive ist, die von manchen als unbequem wahrgenommen wird. Etwas einfacher ist die Integration von Produkten mit recycelten (oder rezyklierten) Anteil, die zwar auch Vorbehalten unterliegen, aber im konventionellen Planungsprozess Platz finden, denn ihre Eigenschaften können im Rahmen der Aufbereitung beeinflusst werden.
Ökologisch gesehen, hat der Einsatz von Wiederverwendung ein deutlich größeres Potenzial, weil die Prozesse zwischen zwei Nutzungen zwar Planungsaufwand bedeuten, aber mit deutlich weniger Energie und Emissionen einhergehen.
Planende sollten umdenken
Die Auseinandersetzung aus ökologischer Perspektive mit Ressourcen verändert die Rahmenbedingungen für die Architekturpraxis drastisch, weil Materialität nicht selten im Zentrum der Entwurfsentwicklung steht. Mit ihr werden Haltung, Idee und Gestaltungswille vermittelt. Die Materialität, die die Oberflächen prägt, ist der Teil über den Nutzende das Gebäude erleben. Mit der Frage nach der Umweltwirkung der Gebäudesubstanz werden bewährte Konstruktionen in Frage stellt. Bauweisen und -produkte mit hoher Umweltwirkung werden wie ein besonders kostenintensiver Bestandteil nur eingesetzt werden, wenn es gute Gründe, zum Beispiel Sicherheitsaspekte oder keine funktional gleichwertige Alternative gibt. Um die Bauwende zu schaffen, sollten Planende lernen die zeitliche Begrenztheit, der Gebäude unterliegen, zu gestalten.
Linda Hildebrand ist Juniorprofessorin für rezykliergerechtes Bauen an der RWTH Aachen, wo sie zu Lebenszyklusbetrachtung und zirkulärem Bauen lehrt und forscht. Sie ist Architektin mit Schwerpunkt auf ökologischem Bauen und Mitinitiatorin von Concular, ein Start-up für Beratung und digitale Leistungen, die beim Schließen der Lücken im Lebenszyklus helfen. Sie wurde 2021 von Magazin Capital als „Top 40 under 40“ ausgezeichnet.