Verkehr-Smart-Mobility icon

Verkehr & Smart Mobility

Standpunkte Ist die aktuelle Verkehrspolitik ungesund?

Linus Mattauch, Juniorprofessor für Nachhaltigkeitsökonomie an der TU Berlin
Linus Mattauch, Juniorprofessor für Nachhaltigkeitsökonomie an der TU Berlin Foto: promo

Nach dem Urteil zu Sofortprogrammen im Klimaschutz braucht es neue Denkansätze in der Verkehrspolitik: Die beschlossene CO2-Preiserhöhung könnte Menschen zu mehr Bewegung animieren und das Gesundheitssystem entlasten.

von Linus Mattauch

veröffentlicht am 18.12.2023

Lernen Sie den Tagesspiegel Background kennen

Sie lesen einen kostenfreien Artikel vom Tagesspiegel Background. Testen Sie jetzt unser werktägliches Entscheider-Briefing und erhalten Sie exklusive und aktuelle Hintergrundinformationen für 30 Tage kostenfrei.

Jetzt kostenfrei testen
Sie sind bereits Background-Kunde? Hier einloggen

Nachdem der Verkehrssektor in Deutschland kaum Emissionen reduziert, hat vor Kurzem das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg geurteilt, dass es unter dem noch bestehenden Klimaschutzgesetz wirksame „Sofortprogramme“ auch für den Verkehrssektor braucht. Die Bundesregierung will zwar in Revision gehen. Aus Sicht der wissenschaftlichen Politikberatung wird jedoch unabhängig davon klar, dass im Verkehrssektor mehr Klimaschutz betrieben werden muss, um Nettoneutralität für die deutsche Wirtschaft bis 2045 zu erreichen.

Ökonomen empfehlen zur Einsparung von Treibhausgasemissionen stets höhere CO2-Preise als wirtschaftlich effizient, denn sie senken die Emissionen zu den geringsten Kosten. Das „Verbrennerverbot“ für Neuwagen ab 2035 ist alleine nicht hinreichend für Klimaschutz im Verkehrssektor. Denn im Straßenverkehr würden in den 2030er- und 2040er-Jahren immer noch zu viele Benziner unterwegs sein.

Außerdem wird das Elektroauto nicht das Problem der hohen Luftverschmutzung in den Städten lösen, weil etwa die Hälfte der Feinstaubbelastung durch Verkehr vom Abrieb der Reifen und Bremsen stammt, nicht von Abgasen. In der Tat plant die Bundesregierung nun eine moderate Erhöhung des nationalen CO2-Preises zum 1. Januar als Teil der nötigen Überarbeitung des Bundeshaushalts.

Versteckte Opportunitätskosten

Eine schädliche Nebenwirkung davon, dass das Auto das beliebteste Verkehrsmittel hierzulande ist, wird dabei oft übersehen: die Opportunitätskosten für die eigene Gesundheit, die entstehen, wenn man das Auto benutzt, anstatt ein Verkehrsmittel mit Bewegung zu wählen. Zwar ist die Bedeutung regelmäßiger Bewegung für die Gesundheit weithin bekannt – aber es fällt vielen Menschen schwer, sie in ihren Tagesablauf zu integrieren.

Darüber hinaus legen Studien nahe, dass die meisten Menschen das wahre Ausmaß unterschätzen, in dem körperliche Aktivität das Risiko von Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebs, Diabetes, Depressionen, und Demenz verringert. Die öffentliche Gesundheitsforschung kann seit etwa 15 Jahren die Kosten recht genau beziffern, die entstehen, wenn Menschen Auto fahren, statt sich im alltäglichen Verkehr zu bewegen.

Jede verpasste Gelegenheit zur körperlichen Betätigung im Alltag ist durchschnittlich also mit erheblichen Kosten verbunden. Im Vereinigten Königreich kostet jeder Kilometer, der mit dem Auto statt zu Fuß oder mit dem Fahrrad zurückgelegt wird, die Gesellschaft etwa 1,66 Euro, in den USA sogar 4,70 Euro. Zum Vergleich: Diese Kosten sind eine Größenordnung höher als alle anderen sozialen Kosten des Autofahrens, also Treibhausgasemissionen, Luftverschmutzung und verlorene Zeit im Stau.

Fahrrad- und Fußverkehr fördern

Das ist für die Verkehrswissenschaft zwar überraschend. Es ist allerdings nachvollziehbar, wenn man bedenkt, dass die meisten Menschen in den Industriegesellschaften an Herz-Kreislauf-Krankheiten und anderen „Zivilisationskrankheiten“ sterben statt an Klimafolgen oder schlechter Luftqualität – und dass die Behandlung von Depression und Diabetes extrem teuer ist.

Alle demokratischen Parteien wollen darum nicht nur die E-Mobilität fördern, sondern auch den Anteil des Radverkehrs an Verkehrsträgern erhöhen und dafür insbesondere Radwege ausbauen. Das ist zwar eine gute Idee, aber die Verkehrswissenschaft weiß seit Jahrzehnten, dass Förderung aktiver Mobilität ohne explizite Maßnahmen zur Beschränkung des Autoverkehrs nicht zu substantiellen Verhaltensänderungen führt.

CO2-Preis wirkt

Meine aktuelle Forschungsarbeit setzt hier an und quantifiziert erstmals die Gesundheitsvorteile durch aktive Mobilität, wenn CO2-Preise erhöht werden. Gerade im Verkehrssektor hätte ein CO2-Preis erhebliche – bisher von der deutschen Verkehrspolitik nicht bedachte – wirtschaftliche Vorteile. Der Grund ist, dass die mit dem CO2-Preis einhergehenden etwas höheren Spritkosten Menschen auch motivieren würden, aufs Rad umzusteigen oder bei der Benutzung des ÖPNV mehr kurze Weg zu Fuß zurückzulegen.

Bisher wurden bei der volkswirtschaftlichen Berechnung der optimalen Benzinpreise die Kosten der Inaktivität nicht berücksichtigt. In unseren Berechnungen haben wir diese Kosten zusätzlich zu den sozialen Kosten des Autofahrens erstmals mit einbezogen und so die Auswirkungen auf die optimale Steuerlast auf Benzin und Diesel bewertet.

Die Ergebnisse zeigen, dass die optimalen Steuersätze im Vereinigten Königreich um 38 Prozent und in den USA um 44 Prozent steigen würden, wenn man die Gesundheitseffekte berücksichtigt. Die deutsche Volkswirtschaft ist in den relevanten Dimensionen sehr ähnlich zur britischen – hierzulande dürfte der Effekt also ähnlich hoch sein.

Einfach laufen lassen

Selbstverständlich können viele Wege nicht mit einem aktiven Verkehrsmittel zurückgelegt werden. Dennoch ist dies bei einem erheblichen Teil der Strecken möglich: in Deutschland sind die Hälfte der Autofahrten kürzer als fünf Kilometer. Solche Strecken können von den meisten Menschen ohne Auto zurückgelegt werden.

Sogar zu Fuß eine Haltestelle öffentlicher Verkehrsmittel zu erreichen, hat sich als wirksam für die Verbesserung der eigenen Fitness erwiesen. Eine europaweite Studie ergab, dass männliche Autofahrer, die einen Teil ihrer Fahrten zu Fuß oder mit dem Fahrrad zurücklegten, etwa vier Kilogramm weniger wogen als ihre Kollegen, die mit dem Auto fuhren.

Manche politischen Stimmen würden nun einwenden, dass Verkehrspolitik, die das Ziel hat, die Bevölkerung fitter zu machen, „paternalistisch“ ist. In der Tat sieht eine deutliche gesellschaftliche Mehrheit die Benutzung des eigenen Autos ja als Gewinn an Freiheit und Unabhängigkeit. Politik, die Menschen von ihren Autos entwöhnen will, um sie gesünder zu machen, würde zu sehr in deren persönliche Entscheidungen eingreifen. Dass sich der Staat aus dem Leben seiner Bürger heraushalten soll, ist aus gesellschaftswissenschaftlicher Sicht eine legitime Auffassung.

Gesundheitssystem entlasten

Allerdings hat diese Position ein anderes Problem: Richtig ist nämlich auch, dass das Gesundheitssystem unter den hohen Kosten jener Krankheiten ächzt, die durch mehr Fußwege und Radfahrten verringert werden könnten.

Wenn nichts unternommen wird, um die Fitness der Bevölkerung zu verbessern, müssen die Gesellschaften die Kosten, die durch Bewegungsmangel entstehen, durch höhere Krankenversicherungsprämien oder Schulden zur Finanzierung des Gesundheitssystems tragen.

Auch wenn die Bundesregierung das Urteil zum Klimaschutzsofortprogramm nicht akzeptieren will: Dass der Verkehrssektor dringend Emissionen sparen muss, damit Deutschland seine Klimaziele einhält, lässt sich nicht wegdiskutieren. Unsere Forschung weist darauf hin, dass im Stadtverkehr die Gesundheitsvorteile durch mehr Bewegung exorbitant sind.

Lernen Sie den Tagesspiegel Background kennen

Sie lesen einen kostenfreien Artikel vom Tagesspiegel Background. Testen Sie jetzt unser werktägliches Entscheider-Briefing und erhalten Sie exklusive und aktuelle Hintergrundinformationen für 30 Tage kostenfrei.

Jetzt kostenfrei testen
Sie sind bereits Background-Kunde? Hier einloggen