Flächenverbrauch und Immissionen durch den motorisierten Verkehr führen zunehmend zu massiven Problemen in den Kommunen. Das zentrale Problem ist die Menge der privaten Pkw in den Städten. Mittlerweile sind mehr als 48 Millionen Pkw in Deutschland zugelassen. Die Okkupation des begrenzten öffentlichen Straßenraums zulasten des Rad- und Fußverkehrs geht in vielen Städten sogar so weit, dass Pkw-Fahrer beidseitig aufgesetzt rechtswidrig auf den Gehwegen unter Duldung der zuständigen Behörden parken (in Kürze hierzu ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichts, Az.: 3 C 5.23).
Handwerker, Zustelldienste und sonstige gewerbliche Versorger leiden unter fehlenden Flächen zum Be- und Entladen, weil der öffentliche Parkraum durch Pkw belegt ist, die über Wochen und manchmal Monate nicht bewegt werden.
Es wurde ein weitgehend unbeschränkter Vorrang der funktionalen Erwachsenenmobilität vor den Bedürfnissen der Kinder mit ihrem natürlichen Bewegungsdrang geschaffen, was ihrer gesunden psychischen und physischen Entwicklung schadet (siehe Marco Hüttenmoser „Kindheit ohne Raum“, 2023). Ihnen verbleiben zum Aufwachsen die elterliche Wohnung („verhauste Kindheit“) oder für sie eingerichtete „Inseln“ zum Spielen. Der Weg zum Kindergarten oder zur Schule erfolgt im „Elterntaxi“.
Aufbruchstimmung in vielen Kommunen
Dies ist die ernüchternde Ausgangslage im Jahr 2024 nach mehr als 30 Jahren Diskussion zur Mobilitätswende. Trotzdem spürt man deutlich in immer mehr Kommunen eine Aufbruchstimmung, zu handeln (siehe zum Beispiel die Initiative „Lebenswerte Städte und Kommunen“ mit mittlerweile über 1000 Kommunen).
Um erfolgreich zu sein, benötigen die Kommunen gerichtsfeste Rechtsgrundlagen. Über Bebauungspläne können sie schon heute die zulässige Nutzung unter anderem von Verkehrsflächen verbindlich anordnen. In ständiger Rechtsprechung spricht das Bundesverwaltungsgericht davon, dass damit „gemeindliche Verkehrspolitik“ gemacht werden kann. Soweit Kommunen Träger der Straßenbaulast sind, können sie auch straßenrechtlich bei überwiegenden Gründen des Allgemeinwohls die Pkw von der Straßennutzung im Wege der Teilentziehung ausschließen (vergleiche Verwaltungsgericht Hamburg, Beschluss vom 21.12.2022 – 15 E 4495/22).
Sie haben daneben eine Fülle von weiteren flächenbezogenen Festsetzungsmöglichkeiten, um dem Klimawandel entgegenzuwirken (Reduzierung CO2-Emissionen) beziehungsweise sich diesem bei Starkregen und Hitze anzupassen. Auf der Grundlage der rechtlich zulässigen Nutzung von Flächen durch Verkehrsteilnehmer haben die zuständigen Straßenverkehrsbehörden diese mit Verkehrsschildern und -einrichtungen gemäß der Straßenverkehrsordnung (StVO) zu begleiten.
Unabhängig von neuen Flächenfestlegungen bedarf die Verbesserung der lokalen Mobilität für eine positive städtebauliche Entwicklung generell begleitender straßenverkehrsrechtlicher Maßnahmen auf den Gemeindestraßen. Das BVerwG hatte diesen Weg für die Gemeinden unter Hinweis auf ihre kommunale Selbstverwaltungsgarantie nach Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG geöffnet (Urteil vom 20.4.1994 – 11 C 17.93).
Diese Möglichkeit wurde aber schon zwei Jahre später durch Einführung der Vorschrift des Paragrafen 45 Abs. 9 Satz 3 StVO wieder genommen. Danach kann der fließende Verkehr mit straßenverkehrsrechtlichen Anordnungen erst dann beschränkt werden, „wenn aufgrund der besonderen örtlichen Verhältnisse eine Gefahrenlage besteht, die das allgemeine Risiko einer Beeinträchtigung der (…) genannten Rechtsgüter erheblich übersteigt“ (sogenannte qualifizierte Gefahrenlage).
Abwehr von Gefahren für Leib und Leben
Das BVerwG führt aus, dass es um die Abwehr von Gefahren für Leib und Leben sowie bedeutende Sachwerte geht. Eine straßenverkehrsrechtliche Anordnung zur Beschränkung des fließenden Verkehrs setzt „eine das allgemeine Risiko deutlich übersteigende Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts voraus, wobei die konkrete Gefahr auf besonderen örtlichen Verhältnissen beruhen muss“ (Urteil vom 23.9.2010 – 3 C 37.09, Rn. 27).
Das Vorliegen einer solchen Gefahrenlage ist somit die Vorbedingung für zulässige straßenverkehrsrechtliche Anordnungen, um den fließenden Verkehr beschränken zu dürfen. Hintergrund ist die etwa vier Jahrzehnte alte „Schilderwald-Diskussion“, die bei zu vielen Verkehrsschildern Gefahren insbesondere für unerfahrene Pkw-Fahrer sah. Für die heutige Verkehrssituation mit der Verdoppelung der Anzahl der Pkw mit unter anderem der Folge stark gesunkener Geschwindigkeiten in den Städten ist das Schutzmotiv des Paragrafen 45 Abs. 9 Satz 3 StVO zumindest innerorts ein Anachronismus.
Aber diese Rechtslage führt gleichwohl zu einem faktischen Vorrang des motorisierten Kraftfahrzeugverkehrs in den Städten, was angesichts des knappen Straßenraums zulasten von Fußgängern, Kindern und Fahrradfahrern geht. Push- und Pull-Maßnahmen gegenüber den Pkw können nicht wirksam eingesetzt werden, um auch den ÖPNV verkehrlich und wirtschaftlich zu stärken, der durch seine Fahrgastbündelung effizient zum Klimaschutz und zur Rückgewinnung städtischer Flächen (durch Einsparung des Parkraums) beitragen könnte.
Die Gestaltung von Mobilitätswende und Klimaschutz vor allem durch Zurückdrängung der Verbrenner-Pkw ist aber mit dem Primat der Gefahrenabwehr in der StVO nicht möglich. Jeder Pkw-Fahrer kann gegen ein neues Verkehrsschild erfolgreich klagen, wenn keine qualifizierte Gefahrenlage für Leib, Leben oder bedeutende Sachwerte von den Straßenverkehrsbehörden belegt wird (siehe aktuell die Stadt Gießen).
Kommunen in anderen EU-Staaten haben mehr Freiheit
Oftmals weisen aus diesem Grund übergeordnete Straßenverkehrsbehörden die Kommunen in ihrer Funktion als untere Straßenverkehrsbehörde an, Verkehrsschilder in einer Kommune wieder zu entfernen. Kommunen in anderen EU-Mitgliedstaaten sind diesen Restriktionen nicht ausgesetzt und können ihre lokale Mobilität mit Blick auf ihre positive städtebauliche Entwicklung eigenverantwortlich gestalten (von den großen Städten zum Beispiel Paris, Barcelona, Kopenhagen, Amsterdam, Stockholm).
Dies ist aber den deutschen Kommunen derzeit nicht möglich. Damit entsteht durch Paragraf 45 Abs. 9 Satz 1 StVO ein massives Spannungsfeld mit Blick auf die kommunale Selbstverwaltungsgarantie gemäß Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG. Immer mehr Autoren in der juristischen Fachliteratur sehen deshalb den Paragrafen 45 Abs. 9 Satz 3 StVO zu Recht als verfassungswidrig an.
Die Schranke des Paragrafen 49 Abs. 9 Satz 3 StVO bedeutet auch, dass zwar eine Gefahr im Straßenverkehr konkret bestehen kann, aber noch nicht die Schwelle einer erheblichen Gefahr erreicht wird, um den fließenden Verkehr rechtlich beschränken zu können. Dies hat zur Folge, dass Gefahren zulasten von Fußgängern, Kindern und Radfahrern in Kauf genommen werden, um den fließenden motorisierten Verkehr nicht zu behindern. Eine Vision Zero wird damit konterkariert, und eine Verletzung der Schutzpflicht des Staates für Leben und körperliche Unversehrtheit der Bürger steht im Raum (vergleiche Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG).
Verkehrsminister Winfried Hermann eint Bundesländer
Die Bundesminister Volker Wissing (FDP) und Robert Habeck (Grüne) hatten sich vor diesem Hintergrund auf eine vorsichtige Reform des Paragrafen 45 StVO geeinigt. Jenseits vom Vorliegen einer Gefahrenlage sollte es den Kommunen möglich gemacht werden, Sonderfahrspuren für Busse, Flächen für den fahrenden und ruhenden Rad- und Fußverkehr sowie Parkbewirtschaftungszonen einzurichten. Überraschend ist diese Novelle im November 2023 im Bundesrat gescheitert.
Offenbar ist es aber Verkehrsminister Winfried Hermann (Grüne) aus Baden-Württemberg gelungen, die Bundesländer auf Kurs StVO-Novelle zu einen, sodass der Vermittlungsausschuss von Bundestag und Bundesrat angerufen werden kann. Es bleibt zu hoffen, dass dann für die Kommunen die Tür für Mobilitätswende und Klimaschutz zumindest ein Stück weit geöffnet wird.
Es besteht auch die Möglichkeit, dass bei der nächsten großen Baurechtsnovelle eine begleitende Verkehrsplanung in das Baugesetzbuch aufgenommen wird, was auch die europäische SUMP-Verkehrsplanung integrieren könnte. Ziel muss es jedoch sein, die völlige Handlungsfreiheit der Kommunen mit Blick auf die Gestaltung ihres lokalen Verkehrs zusammen mit ihrer städtebaulichen Entwicklung herzustellen.