Es ist verständlich: In einer Krise folgt das Denken fast automatisch dem Impuls, mit Bordmitteln des bisherigen Denksystems den Schaden zu begrenzen, statt die ganze Denkordnung infrage zu stellen. Die Krise im Bereich der Mobilität – nur einige Indikatoren sind Klimaschädlichkeit, Urbanitätszerstörung, Aggressionspotenzial, Flächenfressen, Lärm, Feinstaub und hohe Zahlen von Unfallopfern – ist allerdings nicht neu. Man könnte seitens der Politik und der Entscheidungsträger durchaus erwarten, anders zu denken, auch ohne die aktuelle Corona-Pandemie. Wie könnte das aussehen?
Eine wissenschaftlich basierte Entscheidungsfindung ist immer orientiert an der Definition von Handlungszielen: Wie wollen wir, dass die Zukunft der Mobilität 2030 und im Jahr 2050 ohne Emission von Kohlendioxid aussieht?
So herangegangen ist das Problem schnell deutlich, und schon die Pariser Klimaziele 2030 sind bei der Verlängerung der bestehenden Trends nicht nur im Bereich der Mobilität kaum noch denkbar. „Ein lineares Zurückrechnen der Anforderungen wird einfach technologisch schwierig“, erklärte jüngst auf dem Tag der Industrie der BDI-Präsident Dieter Kempf und versprach „Lernkurven der Technik“ in der Zukunft. Dumm nur, dass die Mengen an Emissionen, die wir heute in die Natur und speziell die Atmosphäre entlassen, die Spielräume in den Folgejahren immer mehr einengen und der erforderliche „Technologiesprung“ völlig unrealistisch wird, den ein Umsteuern erfordert.
„Volle Fahrt voraus“ für den motorisierten Verkehr
Rechnen wir im Bereich des Herumfahrens von Waren und Menschen einmal von den Zielen „rück“, wie es der BDI-Präsident sagt: Ziel bis 2030 im Verkehrssektor sind mindestens 42 bis 40 Prozent weniger CO2, so wurde es 2019 von der Bundesregierung nach Paris festgelegt – die aktuellen Beschlüsse des EU-Parlamentes sind noch klar anspruchsvoller.
Was passiert aber? Das Volumen des automotorisierten Fahrens von Personen und Waren mit den in den nächsten Jahren verwendeten Fahrzeugen wird überhaupt nicht hinterfragt. Extrem ist insbesondere das im Bundesverkehrswegeplan (BVWP) unterstellte Wachstum des Straßengüterverkehrs um 39 Prozent bis 2030 (Basisjahr des BVWP ist 2010). Ausbau der Straßen und Förderung des Verkehrswachstums zeigen Folgen, allein zwischen 2018 und Ende 2020 erwartete das Bundesamt für Güterverkehr auf Basis einer Prognose von Intraplan jährliche Wachstumsraten in der Verkehrsleistung von um die drei Prozent beim Güterverkehr und von mindestens ein Prozent beim Personenverkehr.
Während die Klimaziele verschärft werden, stehen alle Wegweiser auf „volle Fahrt voraus“ für den motorisierten Verkehr.
Fangen wir mit den Preisen an: Sprit ist in den vergangenen Jahren deutlich weniger im Preis gestiegen als Fahrkarten für Bus und Bahn. Aktuell ist er so billig, dass es in vielen Fällen günstiger ist, den Plug-in-Hybrid an die Tanksäule zu fahren, statt Strom zu laden. Die lächerliche – eben beschlossene – CO2-Abgabe von 25 Euro je Tonne ab Jahresanfang 2021 wird den viel zu billig gewordenen Sprit kaum merkbar um rund sieben bis acht Cent verteuern. Das wurde am selben Tag für Pendler noch deutlich kompensiert, indem die umweltschädliche Pendlerpauschale erhöht wurde, und zwar für alle Fahrten über 20 Kilometer.
Die Deutsche Bahn erhöht gerade die Fahrpreise, sodass der große Ruck zur Schiene hoch unwahrscheinlich ist. Wenn es denn eine Schiene gibt: Es gibt heute 20 Prozent weniger Schienen, aber 18 Prozent mehr Autobahnen als anno 1995 und einen Bundesverkehrswegeplan, der den Straßenbau bis 2030 weiter intensiv fördert. Jeder Kilometer neue Autobahn erhöht die Attraktivität des Autos und der Lastkraftwagen. Steinzeitlich sind Annahmen über Mobilität mancher Industrie- und Handelskammern oder Landräte. So gab es im Fall des Weiterbaus der A49 Argumente, diese werde die regionale Wirtschaft fördern und die Pendeldistanzen verringern, nach dem Stand der Wissenschaft hat das noch keine neue Autobahn bewirkt.
Zwischenbilanz: Es wird, wenn nicht die Preise je Autokilometer erhöht werden und der Straßenausbau weitergeht – selbst wenn teuer versucht wird, mit der Schiene gegen das Riesendefizit der vergangenen Jahre anzubauen – bis 2030 einen deutlichen Zuwachs der Fahrleistung von Pkw und Lkw in Deutschland geben. Der Zuwachs beim Pkw wird wohl noch mindestens bei zehn Prozent liegen, beim Lkw eher bei 20 Prozent.
Werden die neuen E-Modelle der Hersteller das wieder einsparen? Ein E-Auto ist zwar in der Regel CO2-effizienter als ein fossil getriebenes Gefährt, aber Ökoelektrizität ist knapp, und auch andere Bereiche (Wärme etc.) wollen auf diese zugreifen, sodass der Strommix, der unterstellt werden muss, keineswegs fossilfrei sein wird.
Zudem sind viele E-Modelle (siehe Tesla S mit 2,5 Tonnen) noch größer und schwerer als ihre fossilen Freunde (die ebenfalls Gewicht zulegen, siehe SUV), sodass Einsparungen immer wieder „aufgefressen“ werden (Rebound -Effekt). Kalkulieren wir optimistisch und gehen für 2030 von rund zehn Millionen E-Autos (ein Teil davon sicher die nicht unproblematischen Plug-in-Hybride) aus und davon, dass sie 50 Prozent CO2 einsparen. Dann emittieren wir bei einer Flotte mit rund 20 Prozent E-Autos zehn Prozent weniger je Autokilometer. Durch das Wachstum dieser Kilometer würde kaum ein Effekt bleiben.
Straßenbau wie bisher hat keine Zukunft
Der Güterverkehr sieht noch schlechter aus: Weder Oberleitungen, ein effizienter Batteriebetrieb im Fernverkehr oder der in Mode gekommene Wasserstoff sind hier ernsthafte Perspektiven für einen Großeinsatz bis 2030. Wasserstoff und E-Fuels zeichnen sich noch durch inakzeptable Wirkungsgrade über die Produktion bis zur Autoachse aus, Zahlen zwischen 13 und 20 Prozent sind hier derzeit kaum zu überschreiten. Da kann sich technisch noch etwas tun oder die Bahn schafft eine kleine Trendwende, aber die Mehrkilometer fressen das mehr als auf.
So wird die CO2-Reduktion im Verkehr statt 40 oder gar 50 Prozent also maximal einstellig ausfallen. Manche sehen Wasserstoff, aber auch Biomasse in hohem Volumen noch als Chance, doch diese Energieträger werden auch von anderen Sektoren, die CO2 sparen wollen, benötigt – von der Stahlindustrie über die Luftfahrt bis zur Heizung. Verkehr kann nicht nur sektoral begrenzt gesehen werden.
Umweltgruppen haben recht früh optimistischere Rechnungen als meine obige kritisiert, etwa die der „Nationalen Plattform Mobilität“ noch aus 2019. Es ist klar: Verkehr „von vorn zurück“ gedacht zeigt: Wir werden die Klimaziele klar verfehlen.
Was müsste passieren? Wir müssen völlig neu denken.
1. Wir müssen wirklich an die Fahrleistungen heran. Die Energie für das immer weitere Fahren von Waren und Personen reicht nicht, selbst wenn 2050 vollständig elektrisch oder mit sonstigen CO2-freien Antrieben gearbeitet werden sollte.
Die Zuwachsraten an Kilometern, die der Bundesverkehrswegeplan unterstellt und durch immer mehr Straßen noch fördert, sind illusorisch. Straßenbau wie bisher hat keine Zukunft. Eine erhebliche Erhöhung der Kilometerpreise ist notwendig, eine aktuelle Studie des österreichischen Autoclubs ÖAMTC kalkuliert vier Euro pro Liter Kraftstoff, wenn ein Umdenken und ein anderes Handeln einsetzen sollen.
2. In den Städten helfen nicht Einzelmaßnahmen, sondern nur eine ganz neue Mobilitätsordnung, die Teil eines Bundesmobilitätsgesetzes sein müsste. Eine neue Raumaufteilung in den Städten, neue Rechte auf öffentliche Räume und Stadtkultur. Weniger Autos bringen dort mehr Lebensqualität.
Wir brauchen eine wirkliche Mobilitätswende, es reicht nicht, Technik zu verändern. Technik, Verhalten, Preise und Stadtplanung, all das muss sich ändern, wenn wir wenigstens das Klimaziel von Paris erreichen wollen.
Helmut Holzapfel, Jahrgang 1950, war bis 2015 Professor an der Universität Kassel und leitet seitdem das Zentrum für Mobilitätskultur. Zusammen mit Experten aus Kopenhagen, Lissabon und Budapest arbeitet er an Forschungsprojekten der Europäischen Kommission. Holzapfel berät Umweltverbände und ist Mitglied des Beirats für Integrität und Unternehmensverantwortung der Daimler AG. Sein jüngstes Buch hat den Titel „Urbanismus und Verkehr“.