Standpunkte StVO-Reform, Tempo 30 und die Kommunen: Was können und was müssen sie?

Die Reform der Straßenverkehrsordnung (StVO) polarisiert. Manchen Kommunen geht es gar nicht primär darum, Straßen sicherer zu machen. Sie wollen lieber möglichst wenige „Verbote“ für den Kfz-Verkehr. Die CDU will pauschal alle Tempo-30-Beschränkungen auch vor sensiblen Einrichtungen zurücknehmen. Dabei ist die StVO Bundesrecht.
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Jetzt kostenfrei testenIm Vorfeld der Reform der Straßenverkehrsordnung (StVO) hatte es seitens der Ampel-Regierung geheißen, dass Kommunen nun mehr Spielräume zur Anordnung von Tempo 30 bekommen. Zugleich hat Verkehrsminister Volker Wissing deutlich gemacht, dass eine Überziehung des Hauptstraßennetzes einer Stadt durch Geschwindigkeitsbegrenzungen mit der FDP nicht möglich sein werde. Aber stimmt das wirklich? Wie groß sind die Spielräume? Können Kommunen wirklich nicht flächendeckend Tempo 30 anordnen? Und können sie umgekehrt Tempo 30 ausschließen?
Ein Puzzle: Was lässt sich maximal rausholen?
Weil es bei Tempo 30 oft um Kinder und Schulwegsicherheit geht, passt es vielleicht, die Detailregelungen mit Puzzleteilen zu vergleichen: Aufgrund einer kritischen Masse von Ausnahmen wird es in manchen Fällen nun möglich, ein Verkehrsnetz im Ganzen im Sinne der Vision Zero zu planen. Auf einem überwiegenden Teil des Straßennetzes kann dann Tempo 30 angeordnet werden. Die Puzzleteile fügen sich zu einem größeren Bild zusammen. Das geht nicht immer, denn manchmal bleiben Lücken. Aber es funktioniert dank der Straßenverkehrsrechtsreform immer öfter.
Von was für Puzzleteilen sprechen wir? Im Wesentlichen sind es fünf, zwei alte und drei neue Regelungen:
Es sind – erstens – Tempo-30-Zonen in Wohngebieten. Zweitens Tempo-30-Strecken vor sensiblen Einrichtungen, bereits bekannt sind Kindergärten, Kitas, allgemeinbildende Schulen, Förderschulen, Alten- und Pflegeheime oder Krankenhäuser. Neu dazu kommen Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen und Spielplätze.
Drittens wird die Schulwegeplanung, die in vielen Bundesländern schon fest etabliert ist, durch die Reform straßenverkehrsrechtlich besser aufgegriffen. Dies zeigt sich insbesondere bei hochfrequentierten Schulwegen: Denn für diese gibt es gemäß Paragraf 45 Abs. 9 Satz 4 Nr. 6 StVO auch eine Ausnahme. Diese gilt auch an Landes‑, Bundes- und sonstigen Vorfahrtsstraßen.
Die Schulwegeplanung kann gemäß der aktualisierten Verwaltungsvorschrift zur StVO festlegen, welche Routen als hochfrequentiert betrachtet werden. Dies liegt nicht nur im Bereich der Schule nahe, sondern unter Umständen auch in Ortsteilen ohne Schule in der Nähe von Bushaltestellen. Hochfrequentierte Schulwege sind nun als Straßenabschnitte definiert, die innerhalb eines Stadt- oder Dorfteils eine Bündelungswirkung hinsichtlich der Wege zwischen Wohngebieten und allgemeinbildenden Schulen haben.
Eine besondere Bedeutung im Puzzle bekommen – viertens – Zebrastreifen. Denn neuerdings sind auch sie ein Grund, Tempo 30 anzuordnen. Insbesondere kommt das dort in Betracht, wo der Straßenverlauf unübersichtlich ist oder wo typischerweise damit gerechnet werden muss, dass Kraftfahrer von sich aus nicht bremsbereit mit der Geschwindigkeit heruntergehen.
Einrichtung von Fußgängerüberwegen erleichtert
Diese Regelung hat eine besondere Sprengkraft mit der durch die Reform ebenfalls erleichterten Einrichtung von Fußgängerüberwegen. Bislang waren hierfür sogenannte „verkehrliche Voraussetzungen“ erforderlich: Gemeint war damit, dass auf einer Straße genug Verkehr (aber auch nicht zu viel) sein sollte, um einen Zebrastreifen erforderlich zu machen. Diese Voraussetzungen sind mit der neuen Verwaltungsvorschrift ersatzlos entfallen. Daher können Kommunen, dort wo es nötig ist, einen Zebrastreifen anordnen und zugleich die Geschwindigkeit beschränken.
Ganz wichtig – fünftens – sind Lückenschlüsse zwischen Tempo-30-Zonen. Sie hat es auch bisher schon gegeben. Inzwischen sind diese jedoch von 300 auf 500 Meter ausgedehnt worden. Daher gibt es nun an vielen Orten ganz viele Puzzleteile, die neu eingefügt werden können und das Bild des verkehrssicheren Nahverkehrsnetzes vervollständigen.
In Summe ist also eine ganze Menge möglich nach der StVO-Reform. In einer Kleinstadt wie Pfaffenhofen an der Ilm, die wir als Rechtsanwaltskanzlei bei ihrem Nahverkehrskonzept beraten haben, war es möglich, genug gute rechtliche Gründe zu finden, um in großen Teilen der Stadt inklusive des Hauptstraßennetzes Tempo 30 anzuordnen. Dadurch kann nun der Radverkehr in Abwesenheit geeigneter Fahrradwege relativ gefahrlos im Mischverkehr fahren. Ob dies in anderen Städten auch möglich ist, entscheidet sich anhand der örtlichen Gegebenheiten. Aber die Wahrscheinlichkeit hat sich durch die Reform wesentlich erhöht.
Die Unwilligen: Was Kommunen mindestens tun müssen
Manchen Kommunen, aktuell etwa Berlin, geht es gar nicht primär darum, Straßen sicherer zu machen. Sie wollen lieber möglichst wenige „Verbote“ für Kfz-Verkehr. Wenn es der Reform um Ausweitung der Spielräume für die Kommunen ging: Können die Kommunen frei entscheiden, ob sie Tempo 30 anordnen? Wie ist es vor Schulen, Altenheimen, Kindergärten, neuerdings auch Spielplätzen, an hochfrequentierten Schulwegen oder Zebrastreifen? Haben die Kommunen nun Spielräume, oder müssen sie Tempo 30 anordnen? Wie so oft lautet die korrekte juristische Antwort: „Es kommt darauf an.“
Ein Blick in die StVO könnte zunächst zwar den Eindruck erwecken, dass der Verwaltung freie Hand eingeräumt wird. Denn die Möglichkeit, auch auf Hauptstraßen Tempo 30 anzuordnen, beruht auf Ausnahmen, etwa dem genannten Paragrafen 45 Abs. 9 Satz 4 Nr. 6 StVO. Diese Ausnahmen reduzieren zunächst einmal nur die Begründungsanforderungen: Statt einer qualifizierten Gefahr reicht eine einfache Gefahr zur Begründung der Geschwindigkeitsbegrenzung. Bei der einfachen Gefahr muss die Gefahr eines Schadenseintritts anders als bei der qualifizierten Gefahr nicht erheblich über dem statistischen Durchschnitt aller Straßen liegen.
Allerdings steht hinter dieser Differenzierung auch eine verfassungsrechtliche Bewertung. Wenn vor sensiblen Einrichtungen zu schnell gefahren wird, stehen Grundrechte – etwa von Schulkindern – auf Leben und Gesundheit auf dem Spiel. Diese haben nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts besonderen Schutz verdient. Das Leben und die Gesundheit dieser Kinder werden von der Verfassung höher bewertet als die persönliche Freiheit eines Erwachsenen, schnell mit dem Auto zu fahren.
Das spiegelt sich auch in der Verwaltungsvorschrift zur StVO wider. Dort heißt es nämlich nicht nur abstrakt, dass „die ‚Vision Zero‘ (keine Verkehrsunfälle mit Todesfolge oder schweren Personenschäden) Grundlage aller verkehrlichen Maßnahmen“ ist und – an etwas entlegener Stelle – dass „Sicherheit vor Leichtigkeit im Verkehr“ geht.
Die Verwaltungsvorschrift gibt auch ganz konkret vor, dass vor den genannten Einrichtungen die Geschwindigkeit „in der Regel auf Tempo 30 km/h zu beschränken“ ist. Ausnahmen sind nur dann möglich, wenn negative Auswirkungen auf den ÖPNV, insbesondere Taktverkehr, oder Verlagerungen auf Wohnnebenstraßen drohen. Bei den neuen Gründen für Temporeduzierungen muss unterschieden werden.
Schlachtruf „Zurück zur StVO“ zeugt von Unkenntnis
Bei den hochfrequentierten Schulwegen ist es genauso wie bei den sensiblen Einrichtungen: Hier ist im Regelfall eine Geschwindigkeitsbegrenzung erforderlich, und nur bei den bereits genannten Gründen (ÖPNV und Ausweichverkehre) ist eine Ausnahme möglich.
Anders ist es dagegen bei den Fußgängerüberwegen. Hier „kann“ die Verwaltung in ihrem unmittelbaren Bereich eine Geschwindigkeitsreduzierung anordnen. Ein Ermessen hat die Verwaltung auch bei Lückenschlüssen, die inzwischen von 300 auf 500 Meter ausgedehnt werden können. Laut Verwaltungsvorschrift kommen sie „in Betracht“, sind aber nicht zwingend.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass es viele Gründe gibt, derentwegen Tempo 30 zwingend angeordnet werden muss, es sei denn, es bestehen begründete Ausnahmen. Andere Gründe kann die Verwaltung in Anspruch nehmen. Sie muss es aber nicht.
Was nicht geht, ist, unter dem Schlachtruf „Zurück zur StVO“, den der Berliner CDU-Fraktionsvorsitzende offenbar in Unkenntnis der aktuellen Bestimmungen ausgegeben hat, pauschal alle Tempo-30-Beschränkungen auch vor sensiblen Einrichtungen zurückzunehmen. Letztlich ist die StVO nämlich Bundesrecht. Länder wie Berlin müssen sie ausführen und haben nur begrenzte Spielräume.
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