Deutschland hinkt hinterher – das ist in den vergangenen Monaten nicht nur bei der Digitalisierung sichtbar geworden, sondern auch in der Verkehrspolitik. Während die Menschen in Nachbarländern wie den Niederlanden und Dänemark die Freiheit und Flexibilität eines Fahrrads oder E-Bikes auskosten können, bleibt der gesellschaftliche Wandel in Deutschland vielerorts auf holprigen Radwegen hängen.
Es ist Zeit, das zu verändern. Eine positive und ganzheitliche Fahrradkultur ist ein wichtiger Baustein für eine erfolgreiche Mobilitätswende – sowohl im urbanen als auch im ländlichen Raum, im Alltag und in der Freizeit. Eine Kultur, die Freiheit, Sicherheit, Komfort und nachhaltige Mobilität ins Zentrum stellt – und anerkennt, dass das Fahrrad als Verkehrsmittel ein wesentlicher Faktor zur Veränderung des Mobilitätsverhaltens der Menschen ist.
Das Rad, ob elektrisch oder nicht, ist eine Antwort auf die Fragen unserer Zeit: Während der COVID-19-Pandemie hat das Radfahren an Bedeutung gewonnen, denn auf dem Rad kann man den physischen Abstand wahren, den öffentlichen Verkehr entlasten und sich zugleich körperlich betätigen. In Zeiten des fortschreitenden Klimawandels sind Zweiräder zehn Mal wichtiger als elektrische Autos, um das Ziel CO2-neutraler Städte zu erreichen, wie der Verkehrsforscher Christian Brand von der Universität Oxford errechnet hat. Eine ganzheitliche Fahrradkultur ist der Schlüssel zu emissionsfreien Städten der kurzen Wege, in denen alle Menschen sicher ans Ziel kommen.
Fahrradkultur ohne Infrastruktur?
Die gute Nachricht: Die Menschen in Deutschland wollen aufs Rad steigen, die Verkaufszahlen schießen in die Höhe. Nur: Je mehr Menschen das Rad nutzen, desto offensichtlicher werden auch die Hindernisse. Wie soll eine Fahrradkultur in Deutschland entstehen und wachsen, ohne fahrradfreundliche Infrastruktur? Das Rad könnte noch viel populärer sein. Eine repräsentative Umfrage der Gesellschaft für Konsumforschung (GfK) im Auftrag von Bosch eBike Systems zeigt: Mehr als ein Drittel der Menschen in Deutschland, die bisher nicht täglich Rad fahren, würden das Fahrrad oder E-Bike häufiger nutzen, wenn es mehr Radwege gäbe.
Politik und Verwaltung haben jahrzehntelang ihre Städte- und Infrastrukturplanung auf Autos ausgerichtet. Doch wir müssen endlich FahrradfahrerInnen und FußgängerInnen gleichberechtigt in neuen Raumkonzepten mitdenken. Städte und Gemeinden brauchen „Protected Bike Lanes“, die physisch vom Autoverkehr getrennt sind, sichere Fahrradstraßen und Radschnellwege. Nur mit einem konsequenten Ausbau sind Ziele wie eine „Vision Zero“ realistisch. Die Menschen brauchen Wege, auf denen sie angstfrei und sicher mit dem Rad unterwegs sein können.
Pragmatismus der Pop-up-Radwege zeigt, dass es auch anders geht
Viel früher hätten Bund und Länder gemeinsam die Kommunen bei der Umsetzung nachhaltiger und sicherer Mobilitätskonzepte unterstützen müssen. Immerhin: Fehlendes Budget kann heute kaum noch eine Ausrede sein. Auf nahezu 1,5 Milliarden Euro summieren sich die Fördergelder, die allein das Bundesverkehrsministerium bis 2023 bereitstellen will. Die Pläne von Bund und Ländern reichen vom „Radwegebauprogramm 2020 bis 2024“ bis zum Sonderprogramm „Stadt und Land“. Jetzt heißt es für die Kommunen, diese Gelder auch abzurufen. Besonders in der Pandemie kann dies zur Herausforderung werden. In knappen Gemeindekassen fehlen die Eigenmittel, die Bau- und Verkehrsämter sind strukturell unterbesetzt. Aber: Die Investitionen in Infrastruktur lohnen sich, doch die Verfahren bis zur Umsetzung dauern oft zu lange.
Dass es auch anders geht, zeigt die Popularität der im vergangenen Jahr eingerichteten Pop-up-Radwege. Sie wurden ohne aufwendige Planverfahren eingerichtet, aber sie waren in der Pandemie eine pragmatische Lösung, die sofort gewirkt hat. Unsere repräsentative GfK-Studie zeigt: Eine Mehrheit der Deutschen befürwortet, dass die vorübergehend eingerichteten Radwege dauerhaft erhalten bleiben. Zahlen der Stadt Paris zeigen, wie solche Ad-hoc-Maßnahmen die Mobilität in Städten verändern können: Sechs von zehn NutzerInnen der provisorischen Radwege dort sind Menschen, die das Rad zuvor nicht genutzt haben.
Fahrradmobilität muss auch in der Fläche gefördert werden
Doch nicht nur Ballungsräume brauchen eine bessere Fahrradinfrastruktur. Das E-Bike ermöglicht auch auf dem Land eine deutlich größere Reichweite, im Vergleich zum konventionellen Fahrrad fahren Menschen auf dem E-Bike zwei- bis dreimal häufiger und deutlich längere Strecken. Ein umfassendes, überörtliches Radnetz im ländlichen Raum senkt nicht nur das Unfall-Risiko erheblich, sondern ermöglicht auch dort mehr Fahrradmobilität, wo die Mehrheit der Bevölkerung lebt. Fahrradmobilität in der Fläche, ob für Fahrten in die Schule, zur Arbeit oder für Einkäufe in der Nachbargemeinde, kann einen wichtigen Beitrag zur Mobilitätswende leisten.
Neben der Mobilität im Alltag nutzen immer mehr Menschen das Fahrrad und E-Bike auch in der Freizeit oder im Urlaub. Laut der Radreiseanalyse des ADFC sind die Tagesausflüge mit dem Fahrrad 2020 um 40 Prozent gestiegen. Mountainbiking hat sich in den vergangenen 30 Jahren zu einem Breitensport entwickelt. Immer mehr Menschen zieht es zur Erholung in die Natur, zu Fuß und auf dem Rad. Da helfen keine Verbote: Es braucht mehr gelebte Toleranz für gemeinsam genutzte Wege und geeignete Zusatzangebote in vielbesuchten Naherholungsgebieten und touristischen Hotspots. Die Förderung des Fahrrads darf nicht am Waldrand aufhören. Denn wer in der Freizeit und Natur Rad fährt, nutzt dies vermehrt auch im Alltag in der Stadt – und davon profitiert die gesamte Gesellschaft.