Die Mobilitätsplanung stellt alle Entscheider*innen vor große Herausforderungen. Einerseits gilt es, die vielfältigen Mobilitätsbedürfnisse der Bevölkerung zu erfüllen und so allen eine gleichberechtigte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen. Andererseits steigt die Dringlichkeit, unsere Klimaziele zu erreichen und unser Handeln und Planen daran auszurichten. Die immer schneller steigenden Folgekosten des Klimawandels sind nicht erst seit dem letzten Hochwasser in Bayern bekannt. Es gilt daher heute schon, neue Planungsziele zu definieren und klare Prioritäten zu setzen, um morgen resilientere Infrastruktur zu haben.
Heute wird die Verkehrsinfrastruktur überwiegend bedarfsorientiert geplant. Das bedeutet, dass zunächst eine Verkehrsprognose durchgeführt wird. Meist ergeben die Prognosen ein zukünftiges Verkehrswachstum. Dann wird untersucht, wie ein Projekt wirkt, zum Beispiel, indem es das erwartete Verkehrswachstum aufnehmen kann. Alle positiven und negativen Wirkungen eines einzelnen Projektes auf Reisezeiten, Betriebskosten, Umweltwirkungen et cetera werden zuletzt in einer Nutzen-Kosten-Analyse bewertet.
Überwiegt der Nutzen die Kosten eines Projektes, wird es als ökonomisch sinnvoll eingestuft. In Deutschland ist das eine wichtige Voraussetzung für die Realisierung eines Infrastrukturprojekts, da öffentliche Fördermittel nur unter dieser Voraussetzung zur Verfügung stehen. Ohne Bundesmittel werden verkehrliche Infrastrukturmaßnahmen selten umgesetzt. Dieser Planungsansatz führt jedoch oftmals zum Ausbau überlasteter Autobahnabschnitte, beispielsweise zum zehnspurigen Ausbau von Teilen der A5 bei Frankfurt. Die Nutzen-Kosten-Analyse macht das möglich, weil hier viele Nutzer von kleinen Reisezeitgewinnen profitieren. Diese Ausrichtung der Planung am prognostizierten Bedarf gilt es zu überwinden, indem die Verkehrsentwicklung durch Maßnahmen aktiv gestaltet wird, um gesellschaftliche Ziele zu erreichen.
Allgemein haben Ziele einer nachhaltigen Entwicklung wie Klimaschutz oder auch gleichberechtigte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben an Bedeutung gewonnen. Die bestehenden Planungs- und Bewertungsmethoden bilden diese aber nur unzureichend ab und müssen – vor allem auch mit Blick auf die Haushaltslage – verbessert werden. Eine umfassende und vorausschauende Planung hilft, Fehlinvestitionen heute und in der Zukunft zu vermeiden. Die heute schon bestehende Investionslücke für Klimaanpassungsmaßnahmen unserer Infrastruktur steigt exorbitant, wenn weiter an Projekten mit veralteten Planungszielen festgehalten wird. Stattdessen muss gestalterisch mit Blick auf die Ziele – bessere Erreichbarkeit mit dem ÖPNV, Dekarbonisierung des Verkehrs, Kosteneffizienz – geplant werden. Empfehlungen für ein solches Planungs-Update hat das Team um Projektleiter Horlemann und Heidinger (TUM) im Zukunftscluster Projekt MCube BeneVit entwickelt. Hiermit stellen wir die vier Key-Learnings vor:
1. Klimaziele berücksichtigen: In klassischen Nutzen-Kosten-Analysen zu Verkehrsprojekten werden CO2-Emissionen bereits berücksichtigt. Dabei wird betrachtet, wie sich das Projekt auf Emissionen im Verkehr auswirkt. Wenn durch die Verbesserung des Öffentlichen Personennahverkehrs (ÖPNV) genügend Menschen vom Auto auf öffentliche Verkehrsmittel umsteigen, wird eine positive Klimabilanz – also weniger Treibhausgasemissionen – erwartet. Die Emissionen werden durch die Zuordnung von Kosten, die den durch Treibhausgase verursachten Umweltschäden entsprechen, in Euro ausgedrückt und so in die Nutzen-Kosten-Analyse integriert. In diesem Vorgehen werden die Emissionen jedoch nicht im Verhältnis zu gesetzlichen Klimazielen betrachtet.
Angenommen, durch ein Projekt können 30.000 Tonnen CO2 pro Jahr vermieden werden. Ist das nun viel oder wenig? Dies kann nur beurteilt werden, wenn man es ins Verhältnis zu CO2-Reduktionszielen setzt. Und das ist leicht zu berechnen, wie ein Beispiel aus dem Münchner MVV-Gebiet zeigt: Die CO2-Emissionen durch Personenverkehr innerhalb des MVV-Gebiets werden die anvisierten Klimaziele absehbar um 30 Millionen Tonnen im Zeitraum von 2019 bis 2055 überschreiten. Diese klaffende Lücke in unseren CO2-Zielen gilt es heute in der Verkehrsinfrastrukturplanung zu berücksichtigen. Das Ziel einer ganzheitlichen Planung muss es sein, diese Lücken in der Klimabilanz zu schließen. Dazu sollten die Verkehrsinfrastrukturprojekte identifiziert werden, die einen wesentlichen Beitrag zur CO2-Reduktion leisten.
2. Push- und Pull-Maßnahmen kombinieren: Die Fachcommunity empfiehlt seit Langem, Verkehrsmaßnahmen als Bündel auf den Weg zu bringen. Diese Maßnahmenbündel können nach dem Prinzip „Fördern und Fordern“ oder auch „Push und Pull“ eine größere Wirkung entfalten als einzelne Maßnahmen. Dabei sollen Pull-Maßnahmen nachhaltige Verhaltensweisen wie die Nutzung des ÖPNV attraktiver gestalten. Push-Maßnahmen hingegen senken die Anreize für die Nutzung von Pkw. Erst die Kombination von Push- und Pull-Maßnahme ergibt ein verkehrsplanerisch sinnvolles und wirkungsvolles Maßnahmenpaket und kann so Akzeptanz in der Bevölkerung schaffen.
Beispielsweise reicht eine U-Bahn-Verlängerung alleine noch nicht aus, um möglichst viele Menschen im Auswirkungsbereich der Maßnahme zur Nutzung des ÖPNV zu bewegen. Begleitende Einschränkungen im motorisierten Individualverkehr sind als ergänzende Maßnahme nötig. In der praktischen Verkehrsplanung ist die gemeinsame Umsetzung von Push- und Pull-Maßnahmen aber kaum zu finden. Ein Grund dafür ist, dass es für die Planung solcher Maßnahmenpakete aktuell keine finanziellen Anreize gibt. Während zum Beispiel Ausbauprojekte für den ÖPNV in Deutschland vom Bund mitfinanziert werden, gibt es keine Fördermöglichkeiten für begleitende Push-Maßnahmen. Diese werden daher in klassischen Nutzen-Kosten-Analysen nicht berücksichtigt.
Wie eine Planung und Bewertung von Push- und Pull-Maßnahmen aussehen kann, haben wir am Beispiel München aufgezeigt. Dabei haben wir ermittelt, wie der Pkw-Verkehr im Umfeld einer neuen U-Bahn-Station eingeschränkt werden kann, ohne die regionale Erreichbarkeit insgesamt zu verschlechtern. Konkrete Push-Maßnahmen dafür sind beispielsweise die Umgestaltung und Neuverteilung des Straßenraums, Geschwindigkeits- und Parkbeschränkungen. Diese Maßnahmen führen zusätzlich zu weiteren positiven Effekten wie weniger Lärmbelastung, mehr Verkehrssicherheit und besserer Aufenthaltsqualität im öffentlichen Raum.
Wir können zeigen, wo Push-Maßnahmen sinnvoll eingesetzt werden können, um die Wirkung von geplanten Pull-Maßnahmen zu verstärken. Wir können außerdem darstellen, wie stark Push-Maßnahmen sein dürfen, damit die Erreichbarkeit – über alle Verkehrsmittel betrachtet – auf dem gegenwärtigen Niveau gehalten wird.
3. Zielbeitrag und Kosten-Wirksamkeit bewerten: In Deutschland wird üblicherweise in einer Verkehrsprognose ermittelt, wie viele Menschen von wo nach wo reisen. Daraus ergibt sich, wie viele Personen und Fahrzeuge auf den jeweiligen Straßenabschnitten und im Öffentlichen Verkehr unterwegs sein werden. Als nächstes wird bestimmt, wie sich ein einzelnes Verkehrsprojekt auf das Verkehrsangebot (zum Beispiel Reisezeiten, Betriebskosten oder Zugtaktung) und die Verkehrsnachfrage (zum Beispiel Personenkilometer) auswirkt. Die daraus berechneten Indikatoren werden in einen Geldwert übersetzt und so vergleichbar gemacht. Zusammengenommen ergibt sich daraus das Nutzen-Kosten-Verhältnis, das darüber entscheidet, ob der Bund ein Projekt mitfinanziert.
Diese Vorgehensweise führt häufig dazu, dass dem Nutzen-Kosten-Verhältnis in der Planung und politischen Entscheidungsfindung eine zu dominante Rolle zukommt. Dadurch wird der Nutzen von Verkehrsprojekten nicht ausreichend differenziert betrachtet. Wir empfehlen deshalb, Bewertungsverfahren stärker an übergeordneten Mobilitätszielen auszurichten. Der Beitrag eines Projekts zu den übergeordneten Mobilitätszielen kann anhand zweier Kennzahlen ermittelt werden:
a. Der Zielbeitrag beleuchtet, welchen prozentualen Beitrag ein Projekt zur Erreichung eines übergeordneten Ziels leistet, zum Beispiel zur Reduzierung von Treibhausgasemissionen. Dadurch können die Projekte ausgewählt werden, die am meisten zur Erreichung des Ziels beitragen.
b. Die Kosten-Wirksamkeit zeigt auf, wie wirksam ein Projekt im Verhältnis zu seinen Kosten ist. Dadurch können die Projekte ausgewählt werden, die eine gewisse Wirkung zu den geringsten Kosten erzielen.
Mithilfe dieser Kennzahlen können Verkehrsprojekte gesamtgesellschaftlich priorisiert und entsprechend umgesetzt werden, bis die übergeordneten Ziele erreicht werden.
4. Zukünftige Siedlungsentwicklung auf ÖPNV ausrichten: Urbane Räume verzeichnen seit Jahren mehr Zuzug als Abwanderung. Der stetige Zuzug führt zu verstärkter Nachfrage nach Wohnraum. Möglichkeiten zur Nachverdichtung im Bestand bleiben meist ungenutzt. Stattdessen wächst durch die Ausweitung der Siedlungsfläche auf das Umland in den meisten Regionen die Distanz von Arbeitsplatz und Wohnort und damit die Anzahl der Pendler*innen. Das führt zu zunehmender Verkehrsbelastung auf den Straßen und im ÖPNV. Um diese Herausforderungen für Stadt und Umland zu steuern, empfehlen wir, ÖPNV-orientierte Verkehrsentwicklung und Siedlungsentwicklung integrativ zu planen.
Das bedeutet, Einwohner*innen und Erwerbstätige an Orten zu bündeln, an denen es gute ÖPNV-Erreichbarkeit gibt. Dazu müssen die bestehenden Siedlungsflächen möglichst effizient und dicht bebaut werden. Nur so können die oben beschriebenen Verkehrsprobleme, die sich durch Zuzug neuer Bevölkerung ergeben, abgeschwächt werden. Diese Verzahnung aus Siedlungsentwicklung und ÖPNV-Anbindung wird aktuell in Deutschland unzureichend berücksichtigt.
Am Beispiel München haben wir deshalb gebietsspezifische Potenziale berechnet, um herauszufinden, wo eine Nachverdichtung der bereits bestehenden Siedlungsfläche möglich und sinnvoll ist. In der Methodik geben die Potenziale auf Basis der Verbesserung der Erreichbarkeit die Anzahl der Einwohner*innen oder Erwerbstätigen an, die zusätzlich in einem Gebiet wohnen oder arbeiten könnten. Diese Potenziale können in Zukunft bei der Erstellung von Stadtentwicklungskonzepten oder in der kommunalen Bauleitplanung berücksichtigt werden.
Fazit: „Verkehrswachstum ist kein Naturgesetz“, so eine aktuelle Studie von Agora Verkehrswende. Mobilität und Verkehr müssen politisch gestaltet und dabei die Prioritäten zum Wohle der Allgemeinheit gesetzt werden. Dafür benötigt es nicht nur ein Planungs-Update, sondern auch politischen Willen für einen Paradigmenwechsel.
Co-Autoren: Mathias Heidinger, Oliver May-Beckmann