Standpunkte Vom Vorreiter zum Nachzügler - zum Niedergang der deutschen Klimapolitik

Wie konnte Deutschland in die Situation geraten, seine nationalen und internationalen Klimaschutzverpflichtungen weit zu verfehlen? Franzjosef Schafhausen, bis 2016 Abteilungsleiter im Umweltministerium, blickt in seiner Analyse auf die kleinen Details und die großen Bögen und stellt fest: Bei Debatten wie um den Kohleausstieg wird nur die Spitze des Eisbergs betrachtet. Tatsächlich brauche es, anders als bisher, eine langfristige und konsequente Strategie.

von Franzjosef Schafhausen

veröffentlicht am 30.01.2018

aktualisiert am 14.11.2018

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Es war schon lange ein offenes Geheimnis: Der „Schein“ der deutschen Klimaschutzpolitik hielt dem „Sein“ nicht mehr stand. Zwar wurde bis vor wenigen Monaten dieser Erkenntnis auch auf höchster politischer Ebene immer wieder widersprochen. Die unbestechlichen statistischen Daten und die Entwicklungstrends der letzten Jahre ließen jedoch schon lange keinen Zweifel mehr zu.


Nun ist es offiziell: Deutschland wird sein ambitioniertes 2020er-Klimaschutzziel deutlich verfehlen (Klimaschutzziel: 750 Millionen Tonnen CO2-Emissionen jährlich; Stand Ende 2017: 910 Millionen Tonnen). Zudem wird der deutsche Beitrag zum europäischen Klimaschutzziel zu gering sein, sodass die Bundesregierung wahrscheinlich Emissionsgutschriften aus anderen Ländern zukaufen muss, um ihre europäischen Verpflichtungen zu erfüllen. Die politische Aussage, dass das nationale Klimaschutzziel „natürlich“ innerhalb der Grenzen Deutschlands erreicht werden müsse, wäre damit ebenfalls obsolet.


Was vielen als eine aktuelle Entwicklung erscheinen mag, zeichnete sich bereits frühzeitig ab, da die in der Tat sehr ambitionierten Ziele schon seit mehr als einem Jahrzehnt nicht mehr mit den verabschiedeten Politiken und Maßnahmen übereinstimmten.


Grob lassen sich zwei Phasen unterscheiden:


  1. Zwischen 1990 und 2005 wurde eine durchaus anspruchsvolle Klimaschutzpolitik entwickelt. Damals konnte – begünstigt durch die deutsche Vereinigung – auf der Basis realistischer Szenarien noch eine enge Verbindung zwischen Zielen sowie Politiken und Maßnahmen hergestellt werden. Wirksame Einrichtung war in diesem Zeitraum die vom Kabinett im Juni 1990 unter Federführung des Bundesumweltministeriums eingerichtete „Interministerielle Arbeitsgruppe „CO2-Reduktion“, in der alle Ressorts vertreten waren, die über irgendeine Zuständigkeit in Sachen Klimaschutz verfügten. Ergebnis: Die Treibhausgasemissionen gingen in den ersten fünfzehn Jahren deutscher Klimapolitik um 300 Millionen Tonnen CO2-Äquivalente zurück (15 Millionen Tonnen pro Jahr)!
  2. Allerdings begann schon in der ersten Phase der Niedergang der nationalen Klimaschutzpolitik. Nach dem Überraschungscoup vom 15. Januar 1990 – als das Bundeskanzleramt dem Bundesumweltministerium die Entwicklung einer anspruchsvollen Klimaschutzpolitik übertrug – hatten sich die erheblichen Widerstände in Politik, Verwaltung, Wirtschaft und den Gewerkschaften organisiert und verbündet.


Das nationale Klimaschutzprogramm 2000 war bereits defizitär: Das Umweltministerium konnte sich gegen das damalige Wirtschaftministerium, das vom Bundeskanzleramt unterstützt wurde, nicht mehr auf die notwendigen zusätzlichen Politiken und Maßnahmen verständigen. Notwendig gewesen wäre eine Minderung der CO2-Emissionen um 50 bis 70 Millionen Tonnen bis Ende 2005 – geleistet wurden dagegen lediglich 30 Millionen Tonnen. Das Klimaschutzprogramm 2000 war – unmittelbar vor einer Bundestagswahl – nicht viel mehr als „business as usual“.


Das Wirtschaftsministerium blockierte ab 2007


Der eigentliche Sündenfall fand aber im Sommer 2007 statt: Das „Integrierte Energie- und Klimaprogramm – IEKP“ mit seinen zehn Maßnahmen beendete die übergeordnete Rolle des Bundesumweltministeriums und verschob das Gewicht in das Wirtschaftsministerium. Konsequenz: Bis Ende 2014 verabschiedete das Bundeskabinett kein eigenständiges Klimaschutzprogramm mehr. Zwar wurde die „Interministerielle Arbeitsgruppe CO2-Reduktion“ formal niemals offiziell abgeschafft – sie trat aber nie wieder zusammen. Von den verabschiedeten zehn Maßnahmen wurde nur eine Minderheit in vollem Umfang umgesetzt. Die Konsequenz: Zwischen 2006 und 2016 reduzierte sich die nationale Treibhausgasbilanz nur noch um 73 Millionen Tonnen CO2-Äquivalente (6,6 Millionen pro Jahr), wobei sich die Emissionen in den letzten Jahren stabilisierten beziehungsweise sogar leicht anstiegen.


Hauptakteure waren seit Beginn der aktiven Klimaschutzpolitik das Bundesumweltministerium als Träger der Klimapolitik und das Bundeswirtschaftministerium als Vertreter der wirtschafts- und industriepolitischen Interessen. Die anderen Ressorts – insbesondere das Verkehrs- und das Landwirtschaftsministeriums – verhielten sich von Beginn an defensiv, sie betrieben keine aktive Klimaschutzstrategie. Da verwundert es nicht, dass der Verkehr und die Landwirtschaft derzeit die Sektoren mit den größten Minderungsdefiziten sind. Bis heute wird in diesen Ressorts die Klimapolitik eher als Hemmnis denn als Chance angesehen.


Die gegenwärtige Klimaschutzlücke war schon 2014 größenordnungsmäßig bekannt. Auf wissenschaftlicher Basis war das Defizit zwischen den damals wirksamen Politiken und Maßnahmen und dem Klimaschutzziel 2020 auf mehr als 100 Millionen Tonnen CO2-Äquivalente abgeschätzt worden. Im Rahmen der Ressortabstimmungen einigte man sich nach monatelangen kontroversen Diskussionen darauf, die Lücke deutlich herunterzudefinieren. Das Ergebnis: 62 bis 78 Millionen Tonnen dienten als Basis für die Entscheidung des Kabinetts über das Aktionsprogramm Klimaschutz 2020 (Zielsetzung: „…mindestens 40 Prozent Minderung der nationalen Treibhausgase bis zum Jahre 2020 gegenüber 1990).


Fazit: Die Klimaschutzlücke ist heute mindestens noch ebenso groß wie im Jahre 2014! Nach den aktuellen Abschätzungen (Felix Chr. Mattes, Neue Schwerpunktsetzungen für die Klimapolitik in Deutschland, ifo Schnelldienst 1/2018) ist auf der Basis der derzeit wirksamen Maßnahmen eine Zielverfehlung von sieben bis acht Prozentpunkten (in absoluten Größen 88 bis 100 Millionen Tonnen CO2-Äquivalenten) wahrscheinlich. Um das Klimaschutzziel 2030 zu erreichen müssten damit in den kommenden 13 Jahren rund 348 Millionen Tonnen (absolut etwa 27 Millionen Tonnen pro Jahr) gemindert werden.


Allerdings wurde selbst dieser Beschluss


  • bereits am 1.Juli 2015 im Hinblick auf den Minderungsbeitrag der Energiewirtschaft, die zusätzliche 22 Millionen Tonnen CO2-Äquivalente bis zum Jahr 2020 erbringen sollte, durch den Koalitionsausschuss relativiert. Mindestens die Hälfte der eigentlich beschlossenen Leistungen der Energiewirtschaft sollten nun durch die privaten Haushalte, die Industrie und den Verkehr zusätzlich erbracht werden. Das Verursacherprinzip wurde zugunsten des Gemeinlastprinzips entwertet – eine Tonne CO2-Äquivalent sollte mit einer Subvention von durchschnittlich knapp 1000 Euro erkauft werden.
  • vom Bundesverkehrsministerium und Bundeslandwirtschaftsministerium auch nicht ansatzweise umgesetzt.


Hinzu kam, dass auf Vorschlag des Wirtschaftsministeriums der Nettostromexport auf den Stand von 2014 festgeschrieben wurde, obschon der weitere deutliche Anstieg des netto über die deutschen Grenzen gelieferten Stroms schon damals klar erkennbar war. 2017 betrug der Nettostromexport mit entsprechenden Effekten für die Klimaschutzbilanz 60 Terawattstunden gegenüber der politisch deutlich niedriger gesetzten Annahme.


Für einen zusätzlichen Impuls auf die deutsche Treibhausgasbilanz sorgte dann ab 2015 die Zuwanderung von Menschen von außerhalb der Grenzen Deutschlands. Die Annahmen für die vor 2014 errechneten Szenarien waren von einem Rückgang der Bevölkerung mit allen Auswirkungen auf den Konsum, den Energieverbrauch, den erforderlichen Wohnraum, das ausgelöste Verkehrsaufkommen und damit auf die Treibhausgasemissionen ausgegangen. Das Gegenteil war dann der Fall.


Derzeit ist unklar, wie vor diesem Hintergrund die im Klimaschutzplan 2050 indizierten sektoralen Ziele erreicht werden sollen. Die ebenfalls im Klimaschutzplan 2050 enthaltenen Politikansätze müssten aus heutiger Sicht jedenfalls deutlich konkretisiert und verschärft werden.


Die Politik drückt sich vor überfälligen Entscheidungen


In dieser Situation drängt sich der Eindruck auf, dass sich die Politik aus der Klimaschutzpolitik zurückzieht und die seit langem ausstehenden Entscheidungen auf eine Kommission verlagern will, während der Industrieverband BDI gerade hat feststellen lassen, dass ein Klimaschutzziel von minus 80 Prozent bis zum Jahre 2050 gegenüber 1990 aus heutiger Sicht sowohl technologisch als auch ökonomisch machbar ist.


Es bleibt die Frage, ob die Politik mit Blick auf die Klimaschutzziele 2030, 2040 und 2050 die Kraft für eine neue Klimaschutzpolitik findet, die mit den europäischen und globalen Notwendigkeiten übereinstimmt und zugleich die wirtschaftlich-technischen Rahmenbedingungen berücksichtigt. Um dies sehr deutlich zu sagen: Die derzeit dominierende Frage über die künftige Rolle der Kohle in Deutschland stellt hier nur die Spitze des Eisbergs dar. Nachhaltigkeit verlangt vielmehr eine langfristige und konsequente Strategie, die die tradierten gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Strukturen grundlegend verändert. Überkommene Produktions- und Konsumgewohnheiten müssten modifiziert werden – und das nicht nur in Deutschland oder Europa.


Deutschland als hoch technologisches und rohstoffarmes Land mit einer eigentlich brillanten Forschungs- und Entwicklungshistorie könnte hier Maßstäbe setzen. Die Fehler, die in Sachen Digitalisierung in Deutschland gemacht worden sind, dürften allerdings nicht wiederholt werden. Politik als visionärer Wegweiser zu Beginn der neuen Legislaturperiode wäre wünschenswert.


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