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Agrar & Ernährung

Standpunkte Die Prämisse, dass Nachhaltigkeit nur kostet, ist längst widerlegt

Foto: Tanja Reilly ist Senior Business Development Managerin und Expertin für nachhaltige Beschaffung bei der Plattform für Nachhaltigkeits-Unternehmensratings EcoVadis. Reilly hat mehr als 15 Jahre internationale Erfahrung im Bereich Beschaffung und Compliance in multinationalen Unternehmen.

Die Pläne zur Abschwächung des deutschen Lieferkettensorgfaltspflichtengesetzes haben die Nachhaltigkeits- und Unternehmenswelt in Befürworter und Gegner dieser Initiative gespalten. Doch ob Lieferkettengesetz hin oder her: Jedes Unternehmen sollte die menschenrechtlichen und umweltbezogenen Risiken entlang seiner Lieferkette kennen, meint Tanja Reilly, Expertin für nachhaltige Beschaffung bei EcoVadis. Die Annahme, dass Nachhaltigkeit nur kostet, sei längst überholt.

von Tanja Reilly

veröffentlicht am 26.07.2024

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Die verkündete Abschwächung des deutschen Lieferkettensorgfaltspflichtengesetzes (LkSG) hat in der Nachhaltigkeits- und Unternehmenswelt für Tumult gesorgt: Die einen stöhnten ob des Rückwärtsschrittes, die anderen atmeten auf ob der scheinbaren Reduktion von Bürokratie und Kosten. Doch können diejenigen Unternehmen, die nach der potenziellen Abschwächung nicht mehr in den Geltungsbereich des LkSG fallen, wirklich aufatmen?

In Anbetracht der zunehmenden Risiken lautet die Antwort „nein“. Nachhaltigkeit bedeutet nicht nur Zukunftsfähigkeit, sondern insbesondere Krisenfestigkeit. Es sollte daher im ureigensten Interesse von Unternehmen sein, die menschenrechtlichen und umweltbezogenen Risiken in ihren Lieferketten zu kennen.

Darüber hinaus hat die Europäische Union dies zu einem der zentralen regulatorischen Themen im Rahmen ihrer Nachhaltigkeitsstrategie und des Green Deals gemacht. Bestehende Gesetze werden verschärft, neue Richtlinien müssen umgesetzt werden. So wird etwa die EU-Holzhandelsverordnung (EUTR) durch die wesentlich strengere und mehrere weitere Produktkategorien umfassende EU-Entwaldungsverordnung (EUDR) ersetzt.

Schon jetzt müssen – basierend auf der bereits in Kraft getretenen Corporate Sustainability Reporting Directive (CSRD) – zudem mehr als 50.000 Unternehmen in der EU und darüber hinaus entsprechende Sorgfaltspflichten, Transparenz und Berichterstattung leisten – LkSG hin oder her.

Umdenken von Unternehmen erforderlich

Wir müssen uns bewusst machen, dass diese Gesetze und die damit verbundenen Sorgfalts- und Berichterstattungspflichten Unternehmen ihr Wirtschaften nicht erschweren, sondern ihr zukünftiges Wirtschaften sichern sollen – und das geht nicht ohne eine nachhaltige Transformation.

Während wir den Begriff Nachhaltigkeit mittlerweile inflationär nutzen, müssen wir uns wieder vor Augen führen: Regulierungen wie das LkSG oder die Richtlinien CSDDD, EUDR und CSRD sind entstanden, weil zu wenige Unternehmen Mensch, Planet und Profit freiwillig in Einklang bringen. Stattdessen setzen sie auf Profit und Wachstum auf Kosten der Umwelt und Menschen.

Die Land-, Ernährungs- und Forstwirtschaft, und somit auch der Lebensmitteleinzelhandel, gehören zu den Industrien, die mit enormen Herausforderungen und Risiken konfrontiert sind. Diese betreffen im Übrigen jeden einzelnen von uns. Biodiversitätsverlust, Artensterben, Extremwetter und Naturkatastrophen, Bodenverschlechterung, Schädlingszunahme, Wasserknappheit sind nur einige Beispiele. Hinzu kommen geopolitische Konflikte und Kriege: Wir befinden uns längst nicht mehr nur in einer Klimakrise, sondern in einer Polykrise, in der die einzelnen Krisen eng miteinander verbunden sind.

Mangelndes Wissen über nachhaltige Anbaumethoden gefährdet nicht nur das Ökosystem, sondern kann auch zu geringeren Ernteerträgen führen. In vielen Ländern im globalen Süden liegen die Ernteerträge unterhalb des globalen Durchschnitts. Die Folgen sind mitunter niedrigere Einkommen im Agrarsektor, Ernährungsunsicherheit und Umweltzerstörung, beispielsweise durch illegale Abholzung zur Flächenerweiterung.

Nachhaltigkeit rechnet sich

Aus Unternehmensperspektive stellt sich daher die einfache Frage, was jetzt und in Zukunft mehr kosten wird. Investieren wir jetzt in Nachhaltigkeit, in resiliente Lieferketten und in Produktionsstandorte und deren Arbeiter:innen, oder betreiben wir „business as usual“ und tragen die Folgekosten?

Laut Munich Re lagen die Schäden nur durch Naturkatastrophen im Jahr 2022 weltweit bei 270 Milliarden US-Dollar, als volkswirtschaftlicher Schaden. 120 Milliarden US-Dollar davon waren versichert. Beim Klassiker der Ernteschadenversicherung ist das Angebot der Versicherer in den letzten Jahren gewachsen: Wo es Nachfrage gibt, steigt das Angebot.

Allein die direkten Schäden der Dürre- und Hitzesommer 2018 und 2019 lagen laut dem Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz in der Forstwirtschaft bei 11,3 Milliarden Euro, in der Landwirtschaft bei 4,4 Milliarden Euro. Hinzu kommen die indirekten Schäden und volkswirtschaftlichen Kosten.

Die Mär von „Nachhaltigkeit kostet nur“ ist längst überholt und widerlegt. Die erwarteten Folgekosten bis 2050 in Deutschland steigern sich Jahr für Jahr und summieren sich laut dem Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz letztlich auf 280 bis 900 Milliarden Euro – eine große Spannbreite, denn viele Risikofaktoren, wie Verlust der Artenvielfalt, Auswirkungen auf Wasserwirtschaft und Ökosystemleistungen können aktuell noch schwer „monetär“ erfasst und prognostiziert werden.

Die Abschwächung des Lieferkettensorgfaltspflichtengesetzes hat deswegen eine völlig falsche Signalwirkung: „business as usual“, statt notwendiger Nachhaltigkeitstransformation.

Erste Unternehmen machen vor, wie es geht

Nachhaltigkeit im Unternehmenskontext heißt übersetzt „unternehmerische Verantwortung für Umwelt und Menschen“ und diese ist eng verknüpft mit Sorgfaltspflichten. Wie das in der Praxis aussehen kann und welche Mehrwerte daraus entstehen können, zeigt beispielsweise der Lebensmitteleinzelhändler Lidl mit dem Projekt Living Wage Bananen zur Garantie existenzsichernder Löhne in der Bananenlieferkette.

Ein herausforderndes Projekt, aus dem in Zusammenarbeit mit Partnern wie Fairtrade ein System entstanden ist, mit dem Lidl die Lohnlücke hin zum existenzsichernden Lohn schließt. Ein Investment in die Zukunft der Bananenlieferkette, das sich auszahlen wird.

Doch auch weitere Unternehmen ziehen nach: In einer Umfrage von EcoVadis von Anfang des Jahres gaben 70 Prozent der fast 600 befragten Einkäufer:innen und Lieferant:innen an, dass die Erfüllung von Nachhaltigkeitszielen bei ihnen Top-Priorität hat. Dicht gefolgt von ESG-Compliance und Risikominderung.

Die Zeiten des Einkaufs als reiner Kostenoptimierer und Sparfuchs sind damit zwar nicht endgültig vorbei. Klar ist jedoch, dass viele Unternehmen Nachhaltigkeit, und damit menschenrechtliche und umweltbezogene Sorgfaltspflichten bereits ohne gesetzliche Verpflichtung in den Fokus nehmen. Zu den Vorteilen, die diese Betriebe aus ihren Nachhaltigkeitsprogrammen ziehen, gehören zuallererst die Risikominderung, gefolgt von mehr Widerstandsfähigkeit und Kostenreduktion.

Es zeigt: Diejenigen, die proaktiv die Risiken und Chancen erkannt haben, sind über den Kostenpunkt „Nachhaltigkeit“ hinweggegangen und längst beim Return on Investment, Mehrwerten und positiven Impact angekommen – mit oder ohne LkSG.

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